Beschreibung
Wie wollen wir im Aller leben? Welche kulturellen und sozialen Bedingungen sind dafür ausschlaggebend? Altersforscher unterschiedlicher Disziplinen, unter anderem der Kultur- und Medienwissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Theologie, loten Möglichkeiten des Alterns in globaler Perspektive aus. Sie weisen auf Potenziale des Alters für Kultur und Gesellschaft hin und widersprechen verbreiteten Negativszenarien, die eine Vergreisung der Gesellschaft und einen Clash of Generations prophezeien. Die Beiträge zeigen anschaulich und zugleich theoretisch versiert, wie die Kunst des humanen Alterns in der Welt gelingen kann.
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Autorenportrait
Harm-Peer Zimmermann, Dr. phil., ist Professor am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Andreas Kruse, Dr. phil., Dr. h.c., ist Professor und Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Thomas Rentsch, Dr. phil., ist Professor für Praktische Philosophie und Ethik an der TU Dresden.
Leseprobe
Vorwort Anlässlich seines 80. Geburtstages gab der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg im Mai 2014 ein Interview zum Thema Altern. Keine Spur von Altersmüdigkeit ließ Adolf Muschg erkennen, im Gegenteil: Er zeigte sich mit Hoffnung unterwegs, Ernst Bloch im Tornister. Gerade weil es eine kritische Lebensphase sei, werde das Alter zur Instanz der Kritik - der Kritik an einer sozusagen überdrehten Zivilisation: "Mehr Geld, mehr Quote, mehr Erfolg" - mehr, mehr, mehr. Was will man mehr oder anderes? Im Alter spüren wir zunehmend unsere Grenzen. Wir können oft nicht mehr mithalten, staunen etwa über die Geschwindigkeit, in der junge Leute mit ihren flinken Daumen simsen und twittern - diese Däumlinge der digitalen Welt, wie ein anderer großer Schriftsteller, Günter Grass, die jugendlichen Dauernutzer von neuen Medien genannt hat. Mehr und mehr wird mit dem Alter das Mehr-Mehr-Mehr obsolet und kritisch. Warum sollten wir stets und überall mithalten? Nicht einmal die Jugend schafft das, wenigstens nicht auf allen Gebieten, und schon gar nicht auf allen Gebieten gleichzeitig. Wo wollen wir mithalten und wo nicht? Und überhaupt: Liegt nicht "der Schlüssel zum guten Leben" ganz woanders? Wäre es nicht an der Zeit, uns auf einen anderen Lebensmodus zu besinnen und zu verständigen, um "unser Glück zu finden", fragt Adolf Muschg. Das Alter verkörpert einen alternativen Lebensmodus. Nicht nur, dass es die Dynamik des Mehr-Mehr-Mehr infrage stellt, sondern auch und vor allem, dass es eine andere Art und Weise der Lebensführung verlangt, macht es zum lebendigen Plädoyer für eine andere Kultur und Gesellschaft, eine langsame, ruhige, besonnene - womöglich menschwürdigere? "Das Nichtmehrmüssen ist die gute Seite des Nichtmehrkönnens", sagt Adolf Muschg. Indem es vieles nicht mehr kann, zeigt das Alter auch der Jugend, dass man vieles gar nicht muss. Damit wird das Alter zum lebendigen "Ausdruck der Freiheit", nämlich der Freiheit, einer zivilisatorischen Dynamik zu widerstehen, von der unsere Kultur und Gesellschaft "zwanghaft fortgetrieben wird", als sei sie von der Tarantel gestochen. Indem es Grenzen spürt und erkennt, ruft das Alter die Bedeutung von Grenzen in Erinnerung. Das sind zunächst Grenzen des Wachstums. Das Alter lehrt, so Muschg, "unser Glück zu finden in dem, was wir lassen können" - im Unterlassen, Ablassen, Loslassen. Das sind sodann Grenzen, derer das Leben selber bedarf. Das Alter lehrt, "dass wir unsere Grenzen als verbindlich betrachten", aber nicht wie Grenzbeamte, sondern ganz anders - wie Künstler: "wie bei einem Kunstwerk die Form", so sind Grenzen, Maß und Gestaltung "der Schlüssel zu einem guten Leben" im Alter (wie übrigens in allen Lebensphasen). Wohingegen unter der Dynamik des Mehr-Mehr-Mehr sich das Leben in einer furiosen Halt-, Maß- und Ziellosigkeit erschöpft. Das Alter, das gemeinhin mit Morbidität und Mortalität in Verbindung gebracht wird - Adolf Muschg kürt es zur Avantgarde des Lebens und der Lebenskunst. Und was kulturwissenschaftlich besonders reizvoll ist: Adolf Muschg veranschaulicht seine Überlegungen an kulturellen Beispielen aus fern und nah - an afrikanischen Meistern der Lebenskunst ebenso wie an chinesischen Tuschmeistern: "Ich denke [auch] an einige japanische Meister, wunderbare alte Narren, aber auch an den einen oder andern Handwerker oder Gärtner in meiner Nähe." Heute schauen wir auf andere Kulturen immer auch, um von ihnen zu lernen. Und wir schauen, welche Ressourcen unsere eigene Kultur bereithält, damit unser Leben nicht bloß "zwanghaft fortgetrieben wird", sondern um es bewusst zu gestalten, eine Lebenskunst zu entwickeln - gerade im Alter. Als kulturwissenschaftliche Altersforscherinnen und Altersforscher interessieren wir uns besonders für kulturelle Formen, in denen das Alter nicht bloß als eine Belastung, eine Last oder gar als ein "Massaker" erscheint - um das harte Wort eines weiteren großen alten Schriftstellers, Philip Roth, aufzugreifen. Wir interessieren uns für eine Kultur humanen Alterns. Der Band Kulturen des Alter(n)s dokumentiert 29 Beiträge von Gerontologinnen und Gerontologen aus unterschiedlichen Disziplinen: Kulturwissenschaft, Philosophie, Theologie, Soziologie, Medienwissenschaft, Ethnologie, Sinologie, Islamwissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Geografie und Theaterwissenschaft. Bei aller Disparatheit der Ansätze haben sich alle Beiträgerinnen und Beiträger darauf eingelassen, aus der Warte ihrer Disziplin zugleich einen kulturwissenschaftlichen Fokus zu entwickeln, sodass jeweils vor allem kulturelle Fragen thematisiert werden. Die Beiträge sind als Referate auf dem I. Kongress Kulturwissenschaftliche Altersforschung gehalten und diskutiert worden, der vom 24. bis 27. Mai 2014 vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich ausgerichtet wurde. Damit wird die fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit fortgesetzt, die die drei Herausgeber des Bandes im Rahmen des von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschungsprojektes "Gutes Leben im hohen Alter angesichts von Verletzlichkeit und Endlichkeit" (2009-2013) entwickelt und in zwei Vorgängertagungen dokumentiert haben. In dem Band Kulturen des Altern(n)s geht es unter drei Perspektiven um kulturwissenschaftliche Fragen: Erstens geht es um kulturelle Vielfalt des Alterns in der Welt. Das geschieht mit dem Schwerpunkt China in den Beiträgen von Gudula Linck: Im Fluss der Zeit wandern am Anfang der Welt. Zumutungen und Potenzial der Lebensstufe Alter in der chinesischen Philosophie; Angelika C. Messner: Altern in der Gemengelage von Demografie und Wirtschaftlichkeit in China; Franziska Kampf: Die Familie als Garant sozialer Absicherung? Demografischer Wandel und soziale Herausforderungen in China. Das geschieht im Hinblick auf Südamerika, Afrika und die arabische Welt in den Beiträgen von Mark Münzel: Vom Mythos der Altentötung - Verallgemeinerungen aus Südamerika; Antony Ahounfack: Alter, Altern und ältere Menschen in Kamerun: Alterität - kollektives Gedächtnis, Jana Gerold: Der Online-Pfleger? Care und Mobiltelefonie am Beispiel Tansania; Barbara Laubenthal: Zwischen Ehre und Exil. Kolonialveteranen des Zweiten Weltkriegs in Frankreich und den USA; Otfried Weintritt: Alter/hohes Alter und islamische Vorschriftlichkeit. Zweitens geht es um Möglichkeiten und Grenzen des Alter(n)s in der Mitte Europas. Das geschieht zunächst im Hinblick auf Medien, Arbeit und Pflege in den Beiträgen von Anja Hartung: Alter(n)swirklichkeiten und Medienwandel oder: Warum die Rede von den Digitalen Immigranten in die Irre führt; Esther Gajek: Rollatorenzugänge oder iPad-Nutzung? Die Konstruktion von Alter in musealen Seniorenprogrammen; Antje Schönwald: Zur Wahrnehmung von Alter und Arbeit in alternden Belegschaften. Das Beispiel saarländischer Industrieunternehmen; Lydia-Maria Ouart: Patienten, Kunden, Auftraggeber? Die Rolle älterer Menschen mit Pflegebedürftigkeit gegenüber ambulanten Pflegediensten. Das geschieht sodann am Beispiel von Altersbildern und Altersstereotypen in den Beiträgen von Ute Holfelder: Die böse Schwiegermutter. Zur Amalgamierung, Fest- und Fortschreibung von stereotypen Alters- und Frauenbildern; Welf-Gerrit Otto: Alte im Märchen - Mittler zwischen den Welten; Franziska Polanski: Die Manifestation unbewusster Altersbilder in der Karikatur. Bericht von der ersten empirischen Studie über Altersbilder in Karikaturen im deutschen Sprachraum. Das geschieht schließlich mit dem Schwerpunkt Demenz in den Beiträgen von Heinrich Grebe: Von Irritationen und Resonanzen. Zur Bedeutung der Sinne bei Demenz; Evelyn Niemeier: Die gelöste Verbindung. Das Leben hochbetagter Menschen mit Demenz in ländlichen Regionen am Beispiel der Uckermark; Andrea Newerla: Pflegekulturen im Wandel? Über Handlungsstrategien in der stationären Pflege von Menschen mit Demenz; Sigrid Jacobeit: Edith Sparmann - Lebensstationen einer Ravensbrücker KZ-Häftlingsfrau. Drittens ge...