Beschreibung
Lange zu leben und somit auch alt zu werden, finden viele Menschen erstrebenswert - wirklich alt und abhängig sein möchte dagegen niemand. So ist der Wunsch groß, die späte Lebensphase möglichst von Angst, Schmerz und Verlust freizuhalten. Doch welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine Gesellschaft, die stetig altert? Die Autorinnen und Autoren entwerfen aus Sicht der Gerontologie, der Kulturwissenschaften und der Philosophie ein Bild des Alterns, das die Realität mit all seinen Chancen und Nöten einfängt. Sie plädieren für ein Altern, das als existenzieller Bestandteil des menschlichen Lebens wahrgenommen wird - und nicht als lästiges Problem der individuellen Biografie. Nur so kann unsere Gesellschaft der Situation alternder Menschen gerecht werden. Mit Beiträgen von Sonja Ehret, Petra Gehring, Heinrich Grebe, Otfried Höffe, Timo Jakobs, Andreas Kruse, Ekkehard Martens, Welf-Gerrit Otto, Thomas Rentsch, Carolin Wiegand, Dagmara Wozniak und Harm-Peer Zimmermann.
Autorenportrait
Thomas Rentsch, Dr. phil., ist Professor für Praktische Philosophie und Ethik an der Technischen Universität Dresden.Harm-Peer Zimmermann, Dr. phil., ist Professor am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich.Andreas Kruse, Dr. phil. Dr. h.c., ist Professor und Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg.
Leseprobe
In Würde altern
Otfried Höffe
Lange Zeit fand unser Thema in der Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit. Seit einiger Zeit hat sich die Situation geändert, häufig angestoßen durch den vorher verdrängten demographischen Wandel. Dabei ist das neuerdings intensive Nachdenken über Altern und Alter von einer Engführung bedroht: Gesellschaft und Politik pflegen das Thema nur aus funktionaler Hinsicht zu betrachten. Sie fragen, wie man die Alten möglichst effektiv zunächst in die Berufs- und Sozialwelt, später in die Welt von Alten- und Pflegeheimen integriert. Oft stillschweigend, nicht selten ausdrücklich nimmt man dann Nutzen-Kosten-Analysen in Blick auf die Berufswelt, das Gesundheitswesen, nicht zuletzt die Rentenversicherung vor.
Wir leben aber in einer Gesellschaft, die sich emphatisch auf die Menschenwürde verpflichtet. Deshalb braucht sie die funktionale Perspektive nicht aufzugeben, sollte sie jedoch als eine für die Betroffenen weithin fremde Perspektive erkennen und genau deshalb, als Fremdperspektive, relativieren. Sie sollte zusätzlich die Innenansicht der Betroffenen, die der Älteren selbst, einnehmen und dabei nach ihrer Würde fragen.
Weil sich die Altersstruktur unserer Gesellschaft dramatisch verändert hat, pflegt man von einer alternden Gesellschaft zu reden. Man denkt an eine zunehmende Vergreisung, da die Innovationen abnähmen, die Zahl der Pflegebedürftigen dagegen wachse. Dieses Selbstbild unserer Gesellschaft hält einer näheren Prüfung nicht stand. Daher gliedere ich meinen Vortrag in zwei Hauptteile. Als erstes trete ich der unbedachten Rede von der Überalterung entgegen; erst im zweiten Hauptteil rücke ich den Haupttitel in den Vordergrund, das Altern in Würde.
1. Leben wir in einer alternden Gesellschaft?
Die empirische Sozialforschung hat in den letzten Jahren ein im wörtlichen Sinn paradoxes, nämlich dem ersten Anschein widersprechendes Ergebnis gezeitigt: Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, ist nicht etwa gestiegen. Dieser Befund ist aber nur ein Mosaiksteinchen in einem neuen Gesamtbild, das man am treffendsten unter den Titel Gewonnene Jahre stellt.
Das neue Bild setzt bei einer enormen Veränderung der Lebenserwartung, allerdings nur durchschnittlichen Lebenserwartung an: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten Sechzigjährige in Mitteleuropa noch dreizehn bis vierzehn Jahre, heute können sie noch etwa zwei Dutzend weitere Lebensjahre erwarten. Die Menschen werden aber nicht bloß älter; sie bleiben auch länger frisch: sowohl körperlich als auch geistig, zusätzlich in emotionaler und sozialer Hinsicht. Dagegen wachsen wenige Kinder und Jugendliche nach. Nicht bei der angeblichen Überalterung liegt das Hauptproblem unserer Gesellschaft, sondern bei der Unterjüngung. Schon heute leben in Europa mehr Menschen, die über sechzig, als Menschen, die unter fünfzehn Jahre alt sind.
Aus der so weit skizzierten Situation drängen sich gesellschaftspolitische Aufgaben wie von selbst auf: Wegen des hohen Werts, den wir jedem Menschen zubilligen, sind als erstes die Chancen, das Leben bis ins hohe Alter selbständig zu gestalten, zu verbessern. Wichtig ist aber auch ein gerechtes und zugleich produktives Verhältnis der Generationen zueinander. Um dieses zu erreichen, ist keine Trennung der Generationen, sondern eine Gesellschaft für alle Lebensalter anzustreben.
Der mit der gestiegenen Lebenserwartung einhergehende Gewinn an Lebenszeit enthält ein Potential, das noch nicht annähernd ausgeschöpft ist. Denn entgegen einer verbreiteten Legende sind die Menschen bis ins hohe Alter lernfähig. Sie lernen sogar, was viele zunächst nicht glauben wollten, mit den modernen Informationstechniken umzugehen. Diese Techniken führen nicht etwa, wie oft befürchtet, zu einer verringerten Integration in das gesellschaftliche Leben, zu einer reduzierten sozialen Teilhabe. Insbesondere bei Personen, deren körperliche Beweglichkeit stark eingeschränkt ist, verhält es sich genau umgekehrt. Wie wir es zunächst vom Radio und Telefon, später vom Fernsehen kennen, sind die modernen Informationsmittel wie der elektronische Brief (E-Mail) und das elektronische Weltnetz (Internet) sowohl ein Tor zur Welt als auch ein Forum für den sozialen Austausch. Jede Technik erzeugt allerdings auch Abhängigkeiten, die die Unselbständigkeit erhöhen, da geistige Ressourcen durch Nichtgebrauch abgebaut werden.
Auf die lange Lernfähigkeit der Menschen hat sich freilich die Gesellschaft noch zu wenig eingestellt. Trotz hoffnungsversprechender Ansätze sind viele Gewohnheiten noch einer früheren Zeit verhaftet. Sowohl die Bilder in unseren Köpfen, unsere Mentalitäten, als auch die sozialen Institutionen sind vielfach veraltet. Deren notwendige Veränderung beginnt mit der Kritik an diskriminierenden Ausdrücken wie alternde Gesellschaft, Überalterung und Alterslast.
Der erste Ausdruck, alternde Gesellschaft, ist irreführend. Denn er setzt eine feste Altersgrenze voraus, die sich an einem äußeren, kalendarischen Alter orientiert, nicht aber am tatsächlich gelebten, dem biologischen, emotionalen, sozialen und geistigen Alter. Wer behauptet, der Anteil der Älteren in unserer Gesellschaft sei gestiegen, macht eine Voraussetzung, die der kritischen Überprüfung nicht standhält. Er geht nämlich davon aus, dass der Beginn des Alters bei einer bestimmten Anzahl von Jahren, etwa bei sechzig, fünfundsechzig oder siebzig Jahren, liegt. Den deutlich verbesserten körperlichen und geistigen Zustand der Älteren und ihre zunehmende Lebenserwartung dagegen berücksichtigt er nicht. Legt man im Gegenzug wirklichkeitsnähere Kriterien zugrunde, so rücken die zahlreichen jungen Alten hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes, ihrer Ansprüche und ihrer Leistungen eher in die Richtung der Lebensmitte.
Auch der beim Ausdruck alternde Gesellschaft mitschwingenden Befürchtung von Überalterung und Alterslast liegen falsche Ansichten zugrunde. Beispielsweise nimmt man an, dass ältere Beschäftigte weniger produktiv seien. Wahr ist, dass sie körperlich weniger kräftig und dass sie weniger reaktionsschnell sind. Im Allgemeinen verfügen sie aber über ein Mehr an Erfahrung, an sozialen Fertigkeiten und an Alltagskompetenz. Eine erfreuliche Folge: Volkswirtschaften mit einer älteren Bevölkerung sind nicht zum Nullwachstum verdammt. Allerdings ist die Aus- und Weiterbildung zu stärken. Nicht zuletzt ist die erst im 20. Jahrhundert erfolgte strenge Trennung zwischen Erwerbsphase und Ruhestand aufzugeben. Sinnvoller ist es, die folgenden drei Dinge nicht jeweils einer Lebensphase exklusiv zuzuordnen: das Lernen der Jugend, die Muße dem Alter und das Arbeiten der Zeit dazwischen. Das mittlere Lebensalter ist vielmehr verstärkt für Bildungs- und Familientätigkeit und das anschließende Lebensalter für Erwerbsarbeit zu öffnen.
Als empirisch falsch erweist sich auch die Ansicht, die Alten nähmen den Jungen die Arbeitsplätze weg. In Wahrheit kann die verstärkte Beschäftigung älterer Arbeitnehmer über zwei Begleitumstände, eine Senkung der Lohnnebenkosten und niedrigere Sozialversicherungsbeiträge, sowohl neue Arbeitsplätze schaffen als auch das wirtschaftliche Wachstum steigern. Frühverrentung hingegen belastet durch höhere Sozialversicherungsbeiträge auch die jüngeren Arbeitnehmer. Ein einfacher Beleg: In Ländern mit einem hohen Anteil von Frühverrentung wie beispielsweise Frankreich und Italien ist die Jugendarbeitslosigkeit nicht etwa besonders niedrig, sondern auffallend hoch.
Schließlich ist die Ansicht zu korrigieren, alte Menschen fielen ihren Angehörigen grundsätzlich zur Last. Tatsächlich geben sie in der Regel viele Jahre lang mehr Unterstützung, als sie empfangen. Teils durch finanzielle, teils durch praktische Hilfe im Haushalt oder bei der Betreuung der Enkelkinder tragen sie maßgeblich dazu bei, den jungen Erwachsenen die Schwierigkeiten des Berufseinstiegs und der Familiengründung zu erleichtern. Hinzu kommt, dass sich die Älteren in beträchtlichem Maße ehrenamtlich engagieren. Auch wenn das nicht der entscheidende Gesichtspunkt ist: Die Älteren sind für die Gesellschaft ein Gewinn. Um diesen Gewinn zu realisieren, sind aber vor allem drei Lebensbereiche umzugestalten, die Welt des Berufs und der Arbeit, die Welt der Bildung und die der Lebensräume.
Inhalt
Inhalt
Vorwort
In Würde altern
Otfried Höffe
Gerontologische Perspektiven
Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang mit Potentialen und Verletzlichkeit im Alter - Wege zu einer Anthropologie des Alters
Andreas Kruse
Bedingungen guten Alterns - Der Weg vom Diskurs zur Verantwortung
Sonja Ehret, Timo Jacobs, Dagmara Wozniak
Kulturwissenschaftliche Perspektiven
Alters-Coolness - Gefasstheit und Fähigkeit zur Distanzierung
Harm-Peer Zimmermann
"Der Greis ist heiß" - Alterssex zwischen Emanzipation und Disziplinierung
Welf-Gerrit Otto
Selbstsorge im Angesicht von Verletzlichkeit und Endlichkeit: Facetten einer Lebenskunst des hohen Alters
Heinrich Grebe
Philosophische Perspektiven
Alt werden, alt sein - Philosophische Ethik der späten Lebenszeit
Thomas Rentsch
Altern mit und ohne Lebensende
Petra Gehring
Angst vor der"ausweglosen Krankheit A." - Mit Alzheimer-Demenz"aufgehoben" weiterleben
Ekkehard Martens
"Kommt die Weisheit mit dem Alter?" - Kreative Potentiale des Alters entdecken und entwickeln
Carolin Wiegand
Autorinnen und Autoren
Schlagzeile
Wie lässt sich leichter altern?
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