Beschreibung
175 Jahre sind seit den europäischen Revolutionen von 1848/49 und der Einberufung der ersten deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main vergangen. Dieser Jahrestag bietet die Gelegenheit, über den Zustand unserer Demokratien in Deutschland, Italien und Europa nachzudenken. Angesichts der tragischen Ereignisse, die unseren Kontinent noch immer erschüttern (vor allem der russische Angriffskrieg in der Ukraine), erscheint es nur folgerichtig, dass Begriffe wie Frieden, Demokratie und Freiheit jeden Tag neu gelebt und verteidigt werden müssen. Genau zu der Intensivierung dieses Gedankenansatzes wollen die Überlegungen des vorliegenden Bandes beitragen, in dem sich deutsche und italienische Intellektuelle, PolitikerInnen und Experten aus unterschiedlichen Institutionen und Branchen mit Fragen beschäftigen wie: Warum scheint Gleichgültigkeit gegenüber dem demokratischen System und seinen Institutionen zu herrschen? Ist die Demokratie noch in der Lage, die notwendigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu vollziehen? Was können wir tun, um den Geist der Paulskirche, den des vernünftigen und demokratischen Diskurses, wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zu rücken?
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Autorenportrait
Christiane Liermann Traniello ist seit 2018 Generalsekretärin des Deutsch-Italienischen Zentrums für den Europäischen Dialog - Villa Vigoni und Mitherausgeberin des vorliegen-den Bandes. Axel Wintermeyer ist ein deutscher Jurist und Politiker. Er ist Mitglied der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU). Seit 1999 ist Wintermeyer Mitglied des Hessischen Landtags. Im Jahr 2005 wurde er zum Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Fraktion ernannt, bevor er 2010 Chef der Hessischen Staatskanzlei im Rang eines Staatsministers wurde.
Leseprobe
Der erste Band der Goethe-Vigoni Discorsi, den wir im Jahr 2021 herausgegeben haben, fragte im Rahmen eines deutsch-italienischen Gesprächs, wie sich die damals grassieren-de Covid-Pandemie intellektuell, moralisch, politisch, wirtschaftlich gemeinsam bewälti-gen lasse, wie Deutsche und Italiener damit zurechtzukommen könnten. Nun legen wir den zweiten Band der deutsch-italienischen Goethe Vigoni Dis-corsi vor. Sein Anlass ist die Erinnerung an die Paulskirche. Im Jahr 2023 wird des ersten demokratischen Parlaments der Deutschen gedacht, das vor 175 Jah-ren zusammentrat und bis zum Mai 1849 eine Verfassung für den zu schaffenden Nationalstaat erarbeitete. Versammlungsort war die evangelisch-lutherische Hauptkirche der Stadt Frankfurt, die dem Apostel Paulus geweiht ist. Daher das Stichwort Paulskirche. Es gab damals in Frankfurt keinen besser geeigneten Tagungsort. Eine revolutionäre politische Versammlung in einem Gotteshaus - das mutet heute befremdlich an; aber für die meisten Zeitgenossen war das damals durch-aus keine Zumutung. Im Gegenteil: Patriotische Ideale waren oft christlich grun-diert; Hoffnungen auf Fortschritt und Modernisierung des Politischen speisten sich bei vielen Menschen aus einer auch religiösen Aufbruchstimmung. Und so war die Paulskirche geschmückt mit der deutschen Tricolore; ein schwarz-rot-goldener Vorhang hing vor der Kanzel. Aber warum sollen wir uns heute für die Paulskirche und ihre Hoffnungen und Ambitionen interessieren? Aus der Vielzahl erinnerungspolitischer Angebote seien zwei genannt. Da ist zum einen die überwältigende Dynamisierung der Zeit, auf die sich die Zeitgenos-sen nolens volens einlassen mussten. Zweitens wäre zu nennen der demokratische Idealismus von 1848, den ich kurz in einer deutsch-italienischen Perspektive an-spreche. Zum ersten Punkt: Einer der nachmalig weltweit berühmtesten Deutschen war 1848/49 ein Zeitgenosse, Karl Marx. Wie kaum ein zweiter hat Marx den ra-santen Wandel der Lebensverhältnisse zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht - eine Transformationsgeschwindigkeit, die die Menschen bis heute in Atem hält. Im Kommunistischen Manifest hat er die großartige Metapher von der Verdampfung verwendet, um den ungeheuren Veränderungsdruck zu beschrei-ben, dem die Gesellschaft ausgesetzt ist und der ihr das Gefühl vermittelt, die ei-gene Anpassungsfähigkeit bleibe hinter dem permanenten Wandel zurück. Die Ära der Paulskirche, so wie Marx sie interpretierte, kommt dem heutigen Betrachter vertraut vor, erlebt er sich doch ebenfalls als Spielball in einer Epoche der Krisen, der Umwälzungen und permanenten Innovationen, die gleichzeitig apokalyptische Ängste und technokratische Allmachtsphantasien wecken. Viel-leicht ermöglicht es der Blick auf die Erfahrungen der Paulskirche, heutige Selbstwahrnehmungen in einen größeren Kontext zu stellen. Man gewinnt einen genealogischen Eindruck von Vorgeschichte, welche der eigenen Gegenwart vorausliegt; man erfreut sich an Vorbildern von engagierten Menschen in stürmi-schen Zeiten; man entspannt sich ein wenig bei dem Gedanken, dass manche der aktuellen Krisen-Obsessionen nicht so einmalig sind, wie wir bisweilen glauben. Zum zweiten Punkt sei Theodor W. Adornos fast schon zur Redewendung gewordene Definition der guten Gesellschaft zitiert. Sie finde sich dort, sagt A-dorno in den Minima Moralia, wo man ohne Angst verschieden sein könne. Das ist das Großartigste und vielleicht Utopischste, was sich von menschlichem Zu-sammenleben sagen lässt. Heutzutage wird oft beklagt, die zentrifugalen Kräfte der vielfältigen Ansprüche auf Diversity trieben Gesellschaften auseinander. Zugleich erleben wir vor allem in den sozialen Medien einen unerhörten Anpas-sungs- und Homogenisierungsdruck, durch Phänomene wie Cancel Culture und Political Correctness. Solche diametral konträren Sorgen, Demokratie erzwinge entweder zu viel Gleichförmigkeit oder gefährde gesellschaftlichen Zusammen-halt, gehören zum klassischen Vokabular der Demokratiekritik. Zu den vielen Akteuren auf den verschiedenen europäischen Bühnen der Re-volution zählten zwei, die solche Gefährdungen klar erkannten und trotzdem die humanen, zivilen Chancen von Demokratie höher schätzten als feudale oder auto-ritäre Staats- und Lebensformen. An sie sei hier kurz erinnert. Der eine war Hein-rich Mylius (1769-1854), protestantischer Kaufmann aus Frankfurt und Mailän-der Wahlbürger, auf den die Villa Vigoni, das deutsch-italienische Zentrum für den europäischen Dialog, zurückgeht. Der andere war der katholische Theologe und Philosoph Antonio Rosmini (1797-1855), der aus dem Städtchen Rovereto süd-lich von Trient stammte, also Untertan des österreichischen Kaisers war. Er war der bedeutendste Denker des italienischen Sprachraums im 19. Jahrhundert. Die-se beiden so unterschiedlichen Männer sind sich, soweit wir wissen, persönlich nie begegnet, obwohl sie einige Jahre lang zeitgleich in Mailand lebten. Aber es gab zwischen ihnen eine verbindende Figur: den berühmten Dichter und Roman-autor Alessandro Manzoni, mit dem beide bekannt und befreundet waren. Man kann nicht sagen, dass Mylius und Rosmini irgendeinen Typus reprä-sentierten. Ihre Biographien entsprechen keinem Schema. Beide waren keine Re-volutionäre aus politischer Leidenschaft, keine Barrikadenkämpfer - auch wenn Mylius die Mailänder Aufstände 1848 hautnah miterlebt hat; aber sie waren revo-lutionär im Habitus, in der Bereitschaft, sich über Traditionen und Konventionen hinwegzusetzen. Das betraf vor allem Klassenschranken, die sie weder für gottge-geben, noch für sinnvoll oder gar förderlich hielten. Bildung erschien ihnen als der Königsweg des Fortschritts für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, den Beide mit zahlreichen phantasievollen Maßnahmen förderten, auch wenn ihnen die utopische Vorstellung fremd war, die Menschheit könne sich selbst vervoll-kommnen und erlösen. Bildung hielten sie für die Bedingung von Emanzipation und Freiheit, individuell, politisch, national. Der katholische Geistliche Rosmini hat auf die europäische Bewegung von 1848/49 stärkere politische Hoffnungen gesetzt als der protestantische Kaufmann Mylius. Er hat für eine freiheitliche Ver-fassung in Italien gestritten, die über konstitutionelle Instrumente und Mecha-nismen verfügen sollte, die die Tyrannei der Mehrheit verhindern und die Diskri-minierung von Minderheiten aufhalten könnten. Unmittelbar erfolgreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts war zweifellos Heinrich Mylius als Geschäftsmann; für Antonio Rosmini kam die Anerkennung als Vordenker der konstitutionellen Ein-hegung staatlicher Gewalt erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Aber auch diese zeitlichen Verzögerungen gehören zur Erinnerung an die Paulskirche.