Beschreibung
Die Zeitspanne zwischen der Formulierung einer Theorie und ihrer Akzeptanz ist um so größer, je mehr sie an weltanschaulicher Korrektur abverlangt. Rund 80 Jahre vergingen, bis Darwins Evolutionstheorie 'Recht' bekam. Freuds großer kulturtheoretischer Entwurf wartet 90 Jahre nach 'Totem und Tabu' nach wie vor auf eine Wiederaneignung. Sein kühner Vorstoß in den Bereich dessen, was Gesellschaften im Innersten zusammenhält, ist auch unter Psychoanalytikern zumeist auf Ablehnung gestoßen. Sie entfremdeten sich dem Text und lasen ihn schließlich nur noch als exotischen Tagtraum, den es hinsichtlich der Konflikte und Traumatisierungen seines Autors zu dechiffrieren galt. Um so bemerkenswerter ist, dass 'Totem und Tabu' von anderen Humanwissenschaften aufgegriffen wurde. Manche Theorielinien - etwa die Verbindung zu Ritual- und Opfertheorien - gewannen dadurch an Prägnanz. Das Ärgernis besteht dennoch nach wie vor darin, dass kulturelle Entwicklungen sich nach Freuds kultureller Synthese Akten der Gewalt verdanken, wenn auch einer Gewalt, die sich zu transformieren vermag. Über Transformationsvorgänge ist in der Psychoanalyse der letzten Jahrzehnte viel geschrieben worden. Die in diesem Buch enthaltenen Arbeiten versuchen 'Totem und Tabu' zu rekonstruieren und Entwicklungen außerhalb der Psychoanalyse mit denen im Binnenraum zu verbinden. In einer Zeit, in der die biologische Wissenschaft sich anschickt, die Conditio humana zu reformieren, ist eine Rückbesinnung auf die kulturelle Dimension des Menschen mit ihren ganz andersartigen Gesetzmäßigkeiten unverzichtbar.
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