Beschreibung
"Wittstocks Buch praktiziert auf beeindruckende Weise die journalistischen Tugenden einer lebendigen und illustrativen Schreibweise und der sorgfältigen Recherche." Frankfurter Allgemeine Zeitung "Eine Biografie, die die private sympatische Seite MRRs genauso zeigt wie die oft skrupellose Ausübung seiner Macht ..." Hannoversche Allgemeine Zeitung "Reich-Ranicki selbst hat in 'Mein Leben' genau und offen Auskunft gegeben ... Wittstock kann aber ergänzen. Motivationen aufdecken, die Reich-Ranicki selber nicht bewusst waren oder die er verschweigen wollte. Und der Biograf kann die Geschichte weitererzählen." Focus
Autorenportrait
Uwe Wittstock, 1955 in Leipzig geboren, war von 1980 bis 1989 unter der Ägide von Marcel Reich-Ranicki Literaturredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Danach arbeitete er als Lektor im S. Fischer Verlag. Heute ist der Theodor-Wolff- Preisträger
Leseprobe
Bellevue
'Sie kenn ich ausm Fernsehn.' Der Taxifahrer mustert im Rückspiegel den Mann, der sich am Berliner Gendarmenmarkt auf den hinteren Sitz seines Wagens hat fallen lassen. Er zögert einen Moment, wendet den Kopf, studiert das Gesicht seines Fahrgasts und läßt Sendungen, Serien, Shows vor dem inneren Auge vorüberziehen. Dann hellt sich sein Blick auf. 'Ja', brummt er und nickt befriedigt, 'Sie sind der Kritiker.' Dreht sich wieder nach vorn, fährt zur gewünschten Adresse und sagt kein weiteres Wort.
Nicht: ein Kritiker. Auch nicht: dieser Kritiker. Sondern: der Kritiker. Wenn die Kritik, die in Deutschland traditionell zu den meist mißverstandenen, oft verhaßten Institutionen zählte, heute ein Gesicht hat, ein populäres Gesicht, dann ist dies das Verdienst von Marcel Reich-Ranicki. Ihm ist gelungen, was hierzulande zuvor undenkbar schien: Er hat die Kritik zu einem vom Publikum gespannt verfolgten, nicht selten bewunderten und in vollen Zügen genossenen Schauspiel gemacht. Er hat die Debatte über Literatur - also über so luftige, schwer faßbare Fragen wie die, ob der Roman X des Autors Y nun gelungen sei oder nicht - konsequent demokratisiert. Er hat den öffentlichen Streit über Bücher aus dem Zirkel der Fachleute, Akademiker und Intellektuellen herausgeführt und zu den gewöhnlichen Lesern gebracht - und das in Zeiten, in denen der Literatur nachgesagt wird, sie sei im Begriff, alle Ausstrahlungskraft einzubüßen.
Zum Zeitpunkt jener Berliner Taxifahrt war Reich-Ranicki auf einem Gipfel der Prominenz und Wirkungsmacht angelangt, den vor ihm wohl kein anderer Kritiker in Deutschland erreicht hatte. Nicht einmal der legendäre Alfred Kerr in der Blütezeit der Berliner Theater zwischen den Weltkriegen. Schon als Literaturkritiker der Zeit und als Chef der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wuchs Reich-Ranicki zu einer beherrschenden, den Kulturbetrieb zuverlässig polarisierenden Gestalt heran. Mit einer kaum noch überschaubaren Zahl von Sammel- und Essaybänden, Monographien und Anthologien, Reden und bücherfüllenden Gesprächen manifestierte er über Jahrzehnte hinweg seinen Anspruch auf umfassende literaturkritische Zuständigkeit. Und mit dem von ihm konzipierten und dominierten Literarischen Quartett begann schließlich in den neunziger Jahren seine Karriere zum Popstar der Kritik. Er krönte sie 1999 mit seiner Autobiographie Mein Leben, die inzwischen beinahe anderthalb Millionen Käufer fand und mit der er auch noch zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren jener Jahre avancierte.
Wenn also Bundespräsident Johannes Rau im Dezember 2001 vorschlug, die Abschiedssendung des Literarischen Quartetts in seinen Berliner Amtssitz zu verlegen - und Reich-Ranickis eingangs erwähnte Taxifahrt deshalb vom Gendarmenmarkt zum Schloß Bellevue führte -, dann war dies zweifellos in erster Linie als politische Geste zu verstehen. Dreiundsechzig Jahre nachdem der Jude Marcel Reich achtzehnjährig von den Nationalsozialisten aus Berlin deportiert worden war, bereitete ihm das Oberhaupt des Landes nun in ebendieser Stadt die große offiziöse Bühne für einen weithin beachteten, im Literaturbetrieb noch nie dagewesenen Auftritt: eine Verbeugung Deutschlands vor der nicht nur beruflichen Lebensleistung Reich-Ranickis.
Aber darüber hinaus war diese Einladung des Bundespräsidenten natürlich auch als geschickter Schachzug eines auf Öffentlichkeitswirkung bedachten Politikers zu verstehen. PR-Fachleute sprechen in solchen Fällen von positivem Imagetransfer: Rau wollte einen Abend lang an dem kulturellen Ansehen teilhaben, das Reich-Ranicki genießt, wollte sich vorteilhaft mit ins Bild setzen, wenn die Kameras den großen Schlußapplaus für das Quartett einfingen. Wann hat es so etwas je gegeben: Der höchste Repräsentant des Landes und ein Literaturkritiker stehen sich in der Öffentlichkeit nicht allein auf Augenhöhe gegenüber, sondern es liegt der Verdacht nahe, der Kritiker k ...