Beschreibung
Sergej taugt nicht zum ordentlichen Kommunisten. Als er endlich die Ausreisegenehmigung bekommt, darf er nur einen Koffer mitnehmen. Einen Koffer für ein ganzes Leben. In New York angekommen, schiebt er ihn schnell unter sein Bett. Dort entdeckt er ihn Jahre später wieder. Er öffnet den Koffer - und die Vergangenheit springt ihn an. Da sind zum Beispiel die hellgrünen finnischen Acrylsocken, mit denen er auf dem Schwarzmarkt nicht reich wurde. Oder die Schuhe, die er dem Parteisekretär geklaut hat. Die Geschichten um die schäbigen Habseligkeiten im Koffer umreißen Sergejs erstes Leben und lassen die sowjetrussischen Siebziger in ihren allerschönsten Graubrauntönen aufblitzen. Dowlatows "autobiografische Komödie" ist ein einzigartiges, präzise formuliertes Meisterwerk voll hintergründigem Witz und unstillbarer Sehnsucht.
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Leseprobe
Sagt also diese Schnepfe im OVIR zu mir: Jedem, der ausreist, stehen drei Koffer zu. So ist die vorgeschriebene Norm. Es gibt eine spezielle Anordnung vom Ministerium. Es hatte keinen Sinn zu widersprechen. Ich widersprach natürlich trotzdem: Bloß drei Koffer?! Wo soll ich denn hin mit den Sachen? Zum Beispiel? Zum Beispiel mit meiner Rennwagensammlung. Verkaufen , erwiderte die Beamtin ungerührt. Und fügte dann mit leicht gerunzelter Stirn hinzu: Wenn Sie mit irgendetwas nicht zufrieden sind, machen Sie eine Eingabe. Ich bin zufrieden , sage ich. Nach dem Gefängnis war ich mit allem zufrieden. Na, dann führen Sie sich gefälligst etwas anständiger auf ... Eine Woche später packte ich bereits meine Sachen. Und es zeigte sich, dass ich mit einem einzigen Koffer auskam. Vor lauter Selbstmitleid hätte ich beinahe angefangen zu weinen. Schließlich war ich sechsunddreißig Jahre alt. Achtzehn Jahre davon hatte ich gearbeitet. Etwas verdient, mir etwas gekauft. Mir eingebildet, über einen gewissen Besitz zu verfügen. Und am Ende ein Koffer. Obendrein von recht bescheidenen Ausmaßen. Ich war also bettelarm? Wie war es bloß dazu gekommen?! Bücher? Aber ich besaß hauptsächlich verbotene Bücher. Die der Zoll nicht durchlassen würde. Ich musste sie also an Bekannte verteilen, zusammen mit meinem sogenannten Archiv. Manuskripte? Die hatte ich schon längst heimlich in den Westen geschafft. Möbel? Den Schreibtisch brachte ich zum Gebrauchtwarenladen. Die Stühle holte der Künstler Tschegin ab, der sich bisher mit Kisten beholfen hatte. Den Rest warf ich weg. Und so reiste ich mit einem Koffer aus. Er war aus Sperrholz, mit Stoff überzogen und vernickelten Beschlägen an den Ecken. Das Schloss funktionierte nicht. Ich musste meinen Koffer mit einer Wäscheleine umwickeln. Früher war ich mit dem Koffer ins Pionierlager gefahren. Auf dem Deckel stand sorgfältig mit Tinte gemalt: Jüngste Gruppe. Serjoscha Dowlatow. Daneben hatte jemand wohlmeinend Kloputzer hingekritzelt. Der Stoff war an einigen Stellen eingerissen. Von innen war der Deckel mit Fotos vollgeklebt. Rocky Marciano, Armstrong, Joseph Brodsky und die Lollobrigida in durchsichtiger Kleidung. Der Zöllner versuchte, die Lollobrigida mit den Fingernägeln abzureißen. Letzten Endes zerkratzte er sie nur. Brodsky hingegen rührte er nicht an. Er fragte bloß: Wer ist das? Ich erwiderte, ein entfernter Verwandter ... Am sechzehnten Mai war ich in Italien. Ich wohnte im Hotel Dina in Rom. Den Koffer schob ich unter das Bett. Bald darauf bekam ich Honorare von russischen Zeitschriften. Ich schaffte mir hellblaue Sandalen an, Flanelljeans und vier Leinenhemden. Den Koffer machte ich erst gar nicht auf. Nach drei Monaten ging ich in die Vereinigten Staaten. Nach New York. Zuerst wohnte ich im Hotel Rio . Dann bei Freunden in Flushing. Schließlich mietete ich eine Wohnung in einer ordentlichen Gegend. Den Koffer stellte ich in die hinterste Ecke des Wandschranks. Ich machte nicht mal die Wäscheleine ab. Vier Jahre vergingen. Unsere Familie war wieder vereint. Unsere Tochter wurde eine junge Amerikanerin. Unser kleiner Sohn wurde geboren. Er wuchs heran und fing an, Unfug zu treiben. Eines Tages platzte meiner Frau der Kragen, und sie schrie ihn an: Du gehst jetzt sofort in den Schrank! Unser Sohn verbrachte ungefähr drei Minuten im Schrank. Dann ließ ich ihn raus und fragte: Hattest du Angst? Hast du geweint? Er darauf: Nein. Ich hab auf dem Koffer gesessen. Da holte ich den Koffer hervor. Und machte ihn auf. Zuoberst lag ein gediegener Zweireiher. In Erwartung von Interviews, Symposien, Vorlesungen und feierlichen Empfängen. Ich schätze, er hätte sich auch für eine Nobelpreis-Zeremonie geeignet. Dann ein Popeline-Hemd und Schuhe, in Papier eingewickelt. Darunter eine Kordjacke, mit Kunstpelz gefüttert. Links eine Wintermütze aus falschem Seal. Drei Paar finnische Kreppsocken. Autofahrerhandschuhe. Und schließlich ein Offiziersgürtel aus Leder. Am Boden des Koffers lag eine Seite aus der Prawda vom Mai neunzehnhundertachtzig. Die Schlagzeile lautete: Länge gezogen.