Beschreibung
Zum ersten Mal auf Deutsch: Frühe Erzählungen von Henry James Im Komponieren schicksalhafter Zufallsbegegnungen und märchenhafter Wendungen ist Henry James unerreicht. Mit sprachlicher wie psychologischer Raffinesse macht er das Unwahrscheinliche plausibel und öffnet den Blick auf die Abgründe menschlicher Beziehungen. Die hier erstmals ins Deutsche übersetzten fünf Geschichten unterstreichen seinen Rang als einer der bedeutendsten amerikanischen Autoren an der Wende zur Moderne.Frei von materiellen Sorgen und ohne eine wirkliche Aufgabe loten James Helden ihre Bestimmung vornehmlich auf Reisen aus: auf dem Weg von der Neuen in die Alte Welt, von der Stadt aufs Land. So flieht der kunstsinnige Mr. Locksley nach einer Trennung aus der von gesellschaftlichen Pflichten regierten Metropole New York in die ländliche Idylle Neuenglands. Die Liebe zu einer unschuldigen Fischertochter bahnt sich an. Doch nichts ist, wie es zunächst scheint.Trug oder Wirklichkeit? Drama oder Lustspiel? Trotz großer realistischer Genauigkeit gelingt es Henry James, die Gefühle seiner Helden und den Ausgang der Handlung in der Schwebe zu halten. In den hier ausgewählten Kabinettstücken, die zwischen 1866 und 1884 entstanden, treibt er gewohnt virtuos sein Spiel mit Ahnung und Zweifel der Leser.
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Autorenportrait
Henry James (1843-1916), in New York City geborener Sohn aus wohlhabender Familie, genoss eine kosmopolitische Erziehung. Er studierte Jura in Harvard und ging 1875 als Korrespondent nach Paris, wo er Bekanntschaft mit Flaubert und Turgenev schloss. Später zog er nach England und wurde 1915 unter dem Eindruck des Weltkrieges britischer Staatsbürger. Er schrieb zwanzig Romane, Theaterstücke, Reiseberichte, Essays und über hundert Erzählungen, die ihm zu Lebzeiten Ruhm und Anerkennung eintrugen. Die Begegnung von Amerikanern mit Europa war Henry James' Lebensthema. Mit seiner scharfen Beobachtungsgabe und seinen kunstvollen Bewusstseinsschilderungen gilt er als Meister des psychologischen Romans.
Leseprobe
Erinnern Sie sich noch, wie vor einem Dutzend Jahren die Nachricht vom Platzen der Verlobung des jungen Locksley mit Miss Leary eine Reihe unserer Freunde aufgeschreckt hat? Dieses Ereignis erregte damals einiges Aufsehen. Beide Parteien durften in gewisser Weise für sich beanspruchen, etwas Besonderes zu sein: Locksley seines Reichtums wegen, den man für enorm hielt, und die junge Dame ihrer Schönheit wegen, die wahrhaftig sehr groß war. Ich hörte des Öfteren, ihr Liebster vergleiche sie gern mit der Venus von Milo, und tatsächlich: Wenn Sie sich die verstümmelte Göttin im Vollbesitz ihrer Gliedmaßen vorstellen, herausgeputzt von Madame de Crinoline und unter dem Kronleuchter im Gesellschaftszimmer in belangloses Geplauder vertieft, mögen Sie eine ungefähre Vorstellung von Miss Josephine Leary bekommen. Locksley war, Sie erinnern sich, ein eher kleingewachsener Mann, dunkelhaarig und nicht besonders gutaussehend; und wenn er mit seiner Verlobten so umherspazierte, wunderte sich nahezu jeder darüber, dass er es gewagt hatte, einer jungen Dame von solch stattlichen Proportionen einen Antrag zu machen. Miss Leary hatte die grauen Augen und kastanienbraunen Haare, wie ich sie in meiner Vorstellung stets mit der berühmten Statue verbunden hatte. Die einzige Unzulänglichkeit, die ihre Züge trotz ihrer großen Offenheit und Anmut aufwiesen, war ein gewisser Mangel an Lebhaftigkeit. Was Locksley außer ihrer Schönheit noch angezogen hatte, fand ich nie heraus: In Anbetracht der Kurzlebigkeit seiner Zuneigung war es ja vielleicht wirklich nur ihre Schönheit gewesen. Ich sage, seine Zuneigung war von kurzer Dauer, da es hieß, die Auflösung der Verlobung sei von ihm ausgegangen. Sowohl er als auch Miss Leary hüllten sich in dieser Frage wohlweislich in Schweigen, doch ihre Freunde und Feinde hatten natürlich hundert Erklärungen parat. Am populärsten bei jenen, deren Wohlwollen Locksley gehörte, war die, dass er sich erst angesichts unübersehbarer Anzeichen für die - was? Unredlichkeit? der Dame, erst angesichts des unwiderlegbaren Beweises für das außerordentlich geldgierige Wesen Miss Learys zurückgezogen habe (derartige Ereignisse werden, wie Sie wissen, in vornehmen Kreisen ganz so diskutiert wie bei Zusammenkünften anderer Art ein mit Spannung erwarteter Preisboxkampf, der dann doch nicht stattfindet). Sie sehen, man traute unserem Freund durchaus zu, für eine "Idee" zu Felde zu ziehen. Zugegebenermaßen war dieser Vorwurf, der da gegen Miss Leary erhoben wurde, völlig neu, doch da Mrs Leary, die Mutter, eine Witwe mit vier Töchtern, mir seit langem als unverbesserlicher alter Geizhals bekannt war, war ich so frei, ihrer Erstgeborenen eine ähnliche Neigung zuzutrauen. Vermutlich vertrat die Familie der jungen Dame ihrerseits eine sehr überzeugende eigene Version des Ungemachs, das sie erlitten hatte. Sie wurde dafür jedoch schon recht bald durch Josephines Heirat mit einem Gentleman entschädigt, dessen Aussichten beinahe ebenso glänzend waren wie jene ihres alten Bräutigams. Und welche Entschädigung erhielt er? Genau davon handelt meine Geschichte. Locksley verschwand, wie Sie sich erinnern werden, aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Die oben erwähnten Ereignisse fanden im März statt. Als ich ihn im April in seiner Wohnung aufsuchen wollte, sagte man mir, er habe sich "aufs Land" zurückgezogen. Doch Ende Mai traf ich ihn. Er erzählte mir, er sei auf der Suche nach einem ruhigen, nicht überlaufenen Ort am Meer, wo er ein einfaches Leben führen und Skizzen anfertigen könne. Er sah sehr schlecht aus. Ich schlug Newport vor und erinnere mich noch daran, dass er kaum die Kraft hatte, über den kleinen Scherz zu lachen. Wir gingen auseinander, ohne dass ich ihm hatte weiterhelfen können, und danach verlor ich ihn für sehr lange Zeit gänzlich aus den Augen. Er starb vor sieben Jahren im Alter von fünfunddreißig. Fünf Jahre lang war es ihm also gelungen, sein Leben vor den Blicken der Menschen abzuschirmen. Durch Umstände, auf die ich hier Leseprobe