Beschreibung
Die schon 1966 ursprünglich unter dem Titel 'Die unheilbare Krankheit' konzipierte Arbeit 'Über das Altern' zieht, auf der Grundlage der existentiellen Erfahrungen Amérys, das Fazit aus gravierenden philosophischen und literarischen Lektüren Amérys: Einflüsse von Thomas Mann, Proust, Beauvoir und verschiedener anthropologischer Ansätze sind nachweisbar in diesen fünf großen Essays. Im Anhang des Bandes eine Dokumentation zur Rezeptionsgeschichte dieser beiden Werke und ein ausführliches Nachwort der Band-Herausgeberin Monique Boussart.
Autorenportrait
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei KlettCotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys. Irene Heidelberger-Leonard, geboren 1944 in der Emigration in Frankreich, war Professorin an der Université Libre de Bruxelles und publizierte zu Günter Grass, Alfred Andersch, Jurek Becker, W. G. Sebald und Imre Kertész. Sie ist die Gesamtherausgeberin der bei Klett-Cotta erscheinenden Améry-Werkausgabe. Für ihre Biographie "Jean Améry. Revolte in der Resignation" (2004) erhielt sie den Preis der Einhard-Stiftung für herausragende Biografik.
Leseprobe
Über das Altern Vorwort Ausgewiesen durch nichts als eine Neigung zur Nachdenklichkeit und vielleicht eine gewisse Übung darin, lege ich Versuche über das Altern des Menschen vor. Versuch - das hat hier nicht den Sinn von Experiment, vielmehr von Suche nach etwas, dessen Unauffindbarkeit der analytischen Vernunft von vorneherein einsichtig war. Die Meditationen über meinen Gegenstand haben nichts zu schaffen mit Geriatrie. Es wird gehandelt vom alternden Menschen in seinem Verhältnis zur Zeit, zum eigenen Körper, zur Gesellschaft, zur Zivilisation, schließlich zum Tode. Wer im Sinne positiver Wissenschaftlichkeit sachhaltige Aussagen erwartet, Erkenntnisse, die ihm helfen könnten, sein Leben auf einen bestimmten Zustand - eben den des Alterns - einzurichten, der muß von diesem Buche enttäuscht werden: ich habe nichts dergleichen anstreben können. In einer Epoche, in der die Intelligenz sich abwendet, nicht nur von den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins, sondern vom Menschen überhaupt, an dessen Stelle als Gegenstand der Forschung die Systeme und Codices treten, habe ich mich durchaus an das Gelebte - le vécu - gehalten. Eine solche Bemühung um die annähernd getreue Aufzeichnung der Verläufe, in die der alternde Mensch verstrickt ist, war wesentlich mittels der Methode der Introspektion zu bewerkstelligen; dazu kam noch das Trachten nach Beobachtung und Einfühlung. Jede Hoffnung aber auf Wissenschaftlichkeit, ja sogar auf logische Stringenz mußte aufgegeben werden. Lag einerseits der subjektive Charakter solcher Notizen vom Beginn an für mich auf der Hand, so habe ich doch andererseits danach gestrebt, durch eine aus allen Blickwinkeln vollzogene, permanente Widerspiegelung der gefaßten Gedanken, durch ein ständig sich selbst anfechtendes und korrigierendes Nachdenken, das niemals den Widerspruch scheute, dem Unternehmen eine Drehung ins Mehr-als-Subjektive zu geben - dies unter bewußter Abwendung allerdings von den Zielen Objektivität oder Intersubjektivität. Getragen war ich nur von der ungewissen Hoffnung, es möchte mir die Aufhellung von ein paar für den Menschen unserer Gesittung gültigen Grundtatsachen gelungen sein. Damit ging ich eine Wette ein: die Entscheidung über Sinn oder Unsinn, Wert oder Unwert dieser Arbeit wird ganz dem Leser anheimgegeben, da jene dritte Instanz, die ein Wahrheitsurteil fällt, nicht angerufen werden konnte. Die Anrede des Lesers umgreift die Forderung, daß er sich mir gesellen möge bei etwas, das sich mir selbst erst während der Niederschrift entschleierte. Schritt für Schritt nämlich, wie ich mich vorwärtstastete, war ich genötigt, die vom alternden Menschen allezeit evozierten Hoffnungen aufzugeben, den Trost zu entkräften. Was da immer dem Alternden empfohlen wird, wie er sich mit dem Niedergang abfinden, ja diesem allenfalls sogar Werte abgewinnen könne - Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befriedung -, es stand vor mir als niederträchtige Düperie, gegen die zu protestieren ich mir mit jeder Zeile aufgeben mußte. So wurden die Versuche in ihrer Qualität als Suche, ohne daß ich es vorher so geplant oder auch nur geahnt hätte, aus einer Analyse zu einem Akt der Rebellion, die aber totale Akzeptation des Unentrinnbaren und Skandalösen widersprüchlich voraussetzt. Ich kann nur abwarten, ob der also angeredete Leser mir antworten, ob er mich auf dem Weg durch die Kontradiktionen begleiten wird. Wenn ich auch verzichtete auf jedes vorgegebene wissenschaftliche Instrumentarium und mich ganz auf mich selbst und den ungewissen Boden meines Fragens stellte, so ist es doch nur selbstverständlich, daß ich zahlreichen Einflüssen unterworfen war. Man wird sie ebenso mühelos erkennen wie die gelegentlich einmontierten und als solche nicht ausdrücklich gekennzeichneten Zitate. Nur drei Autoren, von denen ich viel gelernt habe, müssen, da sie möglicherweise nicht hinlänglich bekannt sind, ganz ausdrücklich angeführt werden: der Sorbonne-Professor Vladimir Jankélévitch, der deutsche Arzt und Phänomenologe Herbert Plügge, der französische Publizist André Gorz*. Kein Autor fördert je die Ergebnisse seiner unruhigen Stunden ohne Beklemmung heraus. Wo es um Allerpersönlichstes geht, das sich da und dort trotz aller Selbstbeschränkung des Verfassers versteigt in die Hoffnung, es könne zum allgemein Verbindlichen sich wandeln, dort ist die Bangnis nur um so größer. Bücher haben nicht nur ihre Schicksale: sie können auch Schicksal sein. Brüssel, Sommer 1968 Jean Améry Vorwort zur vierten Auflage In der Dekade, die hinging, seit ich diesen Versuch niederschrieb, hätte ich manches dazulernen können über das Altern. Nicht ohne Belustigung erinnere ich die strenge Kritik eines bei Erscheinen meines Buches schon recht betagten Herrn, der ungefähr dies mir vorhielt: Was könne denn, so meinte er, dieser 'junge' Mensch von 55 Jahren, J. A., vom Altern und dem Alter verstehen? Was nehme er sich da heraus? Beim Wiederlesen des Textes muß ich zum eigenen tiefen Leidwesen dem frohgemuten Greis unrecht geben - und mir recht, hélas! Ich hatte meine Sache verstanden. Wenn ich etwas erfahren habe in den vergangenen zehn Jahren, dann führt es mich eher zur Akzentuierung des damals Gesagten als zur Einschränkung. Es war alles um eine Spur schlimmer als ich es voraussah: das physische Altern, das kulturelle, das täglich lastvoller verspürte Heranrücken des dunklen Gesellen, der an meiner Seite herläuft und mich dringlich anruft, wie den Valentin Raimunds mit dem unheimlich intimen Wort: Freunderl, komm. Heute wie gestern glaube ich, daß gesellschaftlich alles unternommen werden muß, um alternden und alten Menschen ihr mißliches Geschick zu erleichtern. Und zugleich beharre ich noch immer darauf, daß alle hochherzigen und hochachtenswerten Bemühungen in dieser Richtung zwar möglicherweise etwas zu lindern vermögen - also: gleichsam harmlose Analgetica sind - daß sie aber am tragischen Ungemach des Alterns nichts Grundsätzliches zu verändern, zu verbessern imstande sind. An einem einzigen Punkt habe ich eine Revision vorzunehmen, dort nämlich, wo ich das schlimme Wort von der 'Narrengeschichte vom Freitod' schrieb. Hier haben neue Einsichten und Erfahrungen mich in eine andere Richtung gedrängt, haben meinem Nachdenken eine Ausdehnung gegeben, von der ich damals nichts ahnen konnte. Darum fühlte ich mich auch gehalten, mein Buch 'Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod' zu schreiben, das in gewissem Sinne als eine Fortsetzung der vorliegenden Arbeit gelten mag. Brüssel, Frühjahr 1977 Jean Améry Hand an sich legen Vorwort Wer die Bücher des Verfassers kennt, und namentlich seine Studie 'Über das Altern', als dessen direkte Fortsetzung die hier nachfolgenden Überlegungen zum Problem des Freitods gelten können, der muß nicht erst orientiert werden: er weiß, daß der vorliegende Band nichts enthalten kann, was von näher oder fernher an wissenschaftliche Arbeit gemahnen könnte. Wem hingegen der Autor ein Unbekannter ist, der muß redlicherweise gewarnt werden. Niemand wird aus den hier angestellten Erwägungen zu Einsichten gelangen, wie die wissenschaftliche Selbstmordforschung, die 'Suizidologie', sie darzubieten sich anheischig macht. Weder wird er also erfahren, in welchem Lande und warum gerade in diesem sich mehr Menschen töten als in einem anderen, noch wird er über die seelischen und gesellschaftlichen Vorgänge (oder Vor-Verläufe), die schließlich zum Freitod führen, Substantielles zu lesen bekommen. Keine Statistiken werden sein Kenntnisvolumen erweitern, keine graphischen Darstellungen sind da, wissenschaftliche Erkenntnisse zu veranschaulichen, nirgendwo hat der Autor ein Modell des Suizids entworfen. Dieser Text ist jenseits von Psychologie und Soziologie situiert. Er beginnt dort, wo die wissenschaftliche Suizidologie endigt. Ich habe versucht, den Freitod nicht von außen zu sehen, aus der Welt der Lebenden oder der Überlebenden, sondern aus dem Inneren derer, die ich die Suizidär...
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