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Der Wächter der Winde

eBook

Erschienen am 17.08.2019, 1. Auflage 2019
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608191622
Sprache: Deutsch
Umfang: 367 S., 5.41 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Vornehme Geschäftsleute in einer nachtschwarzen Limousine, ein Schmugglerpärchen mit einem Laster voller gestohlenem Whiskey, ein jugendlicher Waisenjunge aus dem Wilden Westen sie alle geraten im Hinterland der kalifornischen Küste in einen Sturm, der sie verschlingt. Aber jenseits dieses Orts tut sich ihnen eine fantastische Welt auf. Keiner der im Sturm Verschollenen ahnt: Sie alle sind Spielball des genialen und exzentrischen Erfinders Ross, der vor zwölf Jahren mit seiner kleinen Tochter in derselben Gegend verschwand. Dort, in der malerischen Wildnis von Big Sur, hat er mithilfe magischer Kräfte die "Welt unter dem Winde" geschaffen, über die er gleich einem König gebietet. Die Gestrandeten geraten in ein Netz aus Intrigen, Erinnerungen und Schuld, fast ohne jede Chance zu entkommen. Eine moderne Fantasygeschichte in der Tradition Neil Gaimans, die Motive aus William Shakespeares "Der Sturm" neu aufleben lässt.

Autorenportrait

Oliver Plaschka, geboren 1975 in Speyer, promovierte an der Universität Heidelberg und arbeitet als freier Autor und Übersetzer. Seine teils fantastischen, teils historischen Romane und Kurzgeschichten gewannen zahlreiche Preise. In der Hobbit Presse erschienen "Die Magier von Montparnasse" und "Das Licht hinter den Wolken". Homepage des Autors: rainlights.net

Leseprobe

Die Tür des Hauses öffnete sich, nochehe sie sie erreichte. Caliban stand im Eingang. Sein schwarzes Haar war noch länger geworden seitihrem letzten Besuch, seine Haut war ungeachtet der wärmenden Sonne bleich wieimmer. Er trug einen dunklen, samtenen Gehrock, in dem sich die Farben einesnächtlichen Regenbogens verbargen, über einem schimmernd weißen Hemd. Seinemelancholischen Kohleaugen starrten ihr entgegen, die schmalen Wangen warenerwartungsvoll gespannt, die blassen Lippen geschürzt. Wie immer wirkte er, alsrechnete er jeden Moment damit, dass der Blitz auch in ihn einschlug. Hallo Mira, sagte er. Caliban!, rief sie und fiel ihn um den Hals.Sie spürte, wie er sich versteifte. Roch seinen Duft, der ähnlich war wie der Ariels,nach Wind und Meer und unerfüllten Träumen. Ich dachte, wir sehen uns erst in dreiNächten. Es ist etwas passiert ... ichmuss mit dir reden. Er entspannte sich, vergrub das Gesicht in ihrem Haar.Dann löste er sich aus ihrer Umarmung und ging ins Haus. Komm herein. Sie folgte ihm nach drinnen. Der vordere Bereich des Hauses war ein kaltes Treppenhaus finsterer Holzwände undschwerer Teppiche auf dem Steinboden. Calibans düstere Gemälde an den Wänden schienenbei jedem Besuch andere undeutliche Schemen zu zeigen, aber immer die gleicheSehnsucht. Spiegelsamt schimmerte auf weichen Sesseln. Trotz der dunkelschillernden Farben und Stoffe wirkte die Eingangshalle auf Mira stets aufverstörende Art abweisend, verschlossen gar. Nichts darin passte zu demCaliban, den sie kannte, und alles wirkte älter als er selbst; es war, als führteer sie durch eine Ausstellung, die sich ihm selbst nicht erschloss. Du bist ja ganz aufgeregt, stellte er fest.Was ist passiert? Sollte sich im Reichedeines Vaters tatsächlich einmal etwas Unvorhergesehenes ereignet haben? Es sind Leute gekommen!, platzte es aus ihrheraus, denn sie hatte keine Zeit für seine Neckereien. Andere Menschen! Zu uns! Leute? Er blieb stehen und wandte sich ihrstirnrunzelnd zu. Menschen? Der Gedankean Besucher musste ihm genauso fremd sein wie ihr. Sie hatten ihr ganzes Leben inder Welt unter dem Winde verbracht sie war alles, was sie kannten. Und Miraund Caliban waren neben Ariel und ihrem Vater die einzigen denkenden Bewohnerdieser Welt. Sie sind auf dem Weg zuuns. Glaub mir! Ariel hat es mir gezeigt. Seine Miene verfinsterte sich weiter. Sie wusste, Caliban misstraute dem Geist,weil Ariel ihrem Vater verpflichtet war. Hat er dich geschickt?, fragte er. Ariel? Nein. Erst wollte er es vor mir geheim halten.Sie strahlte ihn an. Dann habe ich ihnüberredet und er hat mir alles erzählt. Und dein Vater? Sie seufzte. Wünschte,Caliban hätte etwas mehr Vertrauen in sie. Es schmerzte sie, dass die einzigenGefährten in ihrem Leben einander mit Argwohn begegneten. Vater wollte nicht, dass ich zu dir gehe dabin ich davongelaufen. Sie warf die Arme hoch. Manchmal kann er so stur sein! Calibanpresste die Lippen zusammen, schaute unruhig zum Fenster. Er hasst mich, murmelte er. Oh Caliban. Sie trat näher und drückte ihnan sich. Wieso? Wieso stellt Vater sichzwischen uns? Immerzu warnt er mich vor dir, als wärst du ein gefährliches Tier.Wieso? Was ist zwischen euch vorgefallen? Glaub mir, ich hege keinen Groll gegen deinenVater. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er mich in Frieden ließe. Erwählte seine Worte mit Bedacht. Auchwünschte ich häufig, er würde deine Gedanken nicht ständig beschäftigen. Er istein bitterer Mann und kein freudvolles Thema für mich. Er ist mein Vater. Sie biss sich auf dieLippe. Aber manchmal kommt es mir sovor, als wäre ich seine Gefangene. Und ich weiß, dass er dir unrecht tut. Ist das so? Er löste sich von ihr und gingweiter. Dann hilf mir. Ich bin ganzallein. Mira folgte Caliban durch die rückwärtige Tür der Eingangshalle ins Herz des Hauses.Sie kannte den Anblick, der sie dort erwartete, seit ihrer Kindheit; doch ertraf sie jedes Mal aufs Neue wie ein vergessener Schmerz. Wind bauschte ihrHaar, und heller Sonnenschein schlug Mira ins Gesicht, als das Wohnzimmer sichvor ihr auftat. Es war ein weiter, mit massiven Möbeln und dunklen Wandbehängengeschmückter Raum, in dem seiner sorgfältigen Staffage zum Trotz eine große,offene, Wunde klaffte: Denn das Zimmer besaß zwar Boden und Decke, doch nurdrei Wände. Die rückwärtige Wand fehlte so wie bei allen Zimmern hinter dem Eingangsbereich.Mira blieb stehen und ließ den Blick über die offenen Räume wandern. DieSchlucht fuhr direkt durch Calibans Haus: durch Wohnzimmer und Küche imErdgeschoss wie durch Schlaf- und Musikzimmer im Obergeschoss und das Studio unterdem Dach, so als hätte ein riesenhaftes Messer das Haus mitsamt seiner Möbel gleicheiner Torte durchtrennt und beide Hälften separiert, wobei die Schichten der Torteetwas verrutscht waren und einzustürzen drohten. Ungeachtet dieser Gefahr setzten sich Räume und Gegenstände auf der anderen Seiteder Schlucht einfach fort. Ein Sofa begann auf der einen Seite und endete aufder anderen. Hemden wehten aus den offenen Flanken eines zerteiltenKleiderschranks; eines war gar in der Mitte zerteilt, so dass beide Ärmel aufewig durch die Schlucht getrennt waren. Selbst Calibans Bett kannte zweiHälften, ebenso sein Klavierflügel, und die Farbtöpfe seines Studios standenfern der schmetterlingsumtanzten Staffelei. Vögel spielten in dem Rinnsal, dasaus dem halben Spülstein in die Schlucht tropfte.

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