Beschreibung
'Jede Veränderung hat ihren Preis' - Stefan Kühl wendet sich gegen den blinden Enthusiasmus, mit dem die Konzepte zur Enthierarchisierung und Dezentralisierung von Organisationen auch heute noch angepriesen werden. Gestützt auf empirische Studien in europäischen und US-amerikanischen Unternehmen beschreibt er anschaulich, warum diese Managementkonzepte Organisationen bis an den Rand der Existenz bringen können.
Autorenportrait
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisationssoziologie, an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für verschiedene deutsche Unternehmen.
Leseprobe
Von Trompeten, Pyramiden und Zwiebeln - Vorwort Alles fing an mit einer Trompete, einer Pyramide und einer Zwiebel. Die Idee für dieses Buch kam mir bei der Betrachtung der Skizze einer Organisationsberatungsfirma, mit der die Entwicklung von Wirtschaftsorganisationen seit Anfang des 19. Jahrhunderts illustriert wurde. Durch die tief gegliederte, schmale Hierarchie von Organisationen um 1900 hatten - so die Skizze - deren Organigramme die Form einer Trompete. Die Organisationen waren gekennzeichnet durch einen klaren Aufbau mit eindeutigen Befehlslinien. Der Organisationsleiter allein hatte den Überblick und gab die notwendigen Anweisungen. Befehl und Gehorsam waren die Stützen der Organisation. Mit den komplexer werdenden Unternehmen und Verwaltungen und der Ausdehnung des mittleren Managements wurde aus der Trompete eine Pyramide. Immer mehr Menschen wurden mit Planungs-, Steuerungs- und Kontrollaufgaben betraut. Funktionale Unterteilungen wurden gebildet, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der einzelnen Bereiche gegeneinander abgegrenzt. Zwei neue Elemente erweiterten das Organisationsrepertoire: Stäbe zur Unterstützung der Führung und das Matrixmanagement als eine Art querstehende Hierarchie. Die zunehmende Automatisierung und die Computerisierung hatten somit trotz schrumpfender Basis zu einer weiteren Ausdehnung des Managements geführt. Auf die raschen Veränderungen der Märkte und weitere technische Umwälzungen reagierten die Organisationen mit Workshops, die Mitarbeiter aus unterschiedlichen Funktionen zusammenführten. Projektgruppen ergänzten immer mehr die herkömmliche Hierarchie. Die pyramidenähnliche Organisation nahm immer mehr die Form einer Zwiebel an (nach Leue 1989: 5). Abb. 1: Von der Trompete zur Zwiebel: Der Wandel von Organisationen (Leue 1989: 3) Die "ZwiebelForm" war aber nicht die letzte Metapher, die zur Darstellung der Organisierung gemeinsamen Handelns herhalten musste. Unter Namen wie das "lernende Unternehmen", der "modulare Betrieb", die "fraktale Fabrik", das "zelluläre System" oder die "agile Organisation" werden in immer kürzeren Abständen neue Organisationskonzepte "nach der Zwiebel" vorgestellt. In diesem Buch arbeite ich heraus, wie sich Manager, Berater und Wissenschaftler die Organisationsstruktur "nach der Zwiebel" vorstellen. Als Organisationswissenschaftler kann es mir nicht darum gehen, die neuen Organisationsformen als Allheilmittel gegen die schon länger anhaltende Krise bürokratischer Organisationen zu verkaufen. Der immer wieder hochkochenden allgemeinen Begeisterung für neue Organisationskonzepte zum Trotz arbeite ich in diesem Buch die Schwierigkeiten, Schwachstellen und Grenzen postbürokratischer Organisationsformen heraus und greife dabei auf Erfahrungen zurück, die in der Vergangenheit in Unternehmen, aber auch in Verwaltungen und in politischen Organisationen mit Enthierarchisierung und Dezentralisierung gemacht wurden: Durch die angestrebte Grenzenlosigkeit nach innen und außen droht, so mein Argument, die ganze Organisation "auseinanderzulaufen", ihren inneren Zusammenhang zu verlieren. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verlieren ein klares Bild von ihrer Organisation (Identitätsdilemma). Die Selbstverpflichtung von Organisationen auf Innovation und Wandel schafft organisationsinterne Unsicherheitszonen, es droht eine "Dauerpolitisierung" interner Prozesse und Entscheidungen (Politisierungsdilemma). Immer mehr Organisationen greifen angesichts der zunehmenden Komplexität zu Vereinfachungsstrategien. Aber gerade die Vereinfachung von Abläufen führt zu einer wachsenden Komplexität, die als solche jedoch nicht wahrgenommen wird (Komplexitätsdilemma). Jenseits der Neuigkeitsdramatisierung Leser und Leserinnen, die auf der Suche nach der allerletzten Managementmode sind, mit der sie die nächste anstehende Power-Point-Präsentation aufhübschen oder eine Beratungsleistung in den Markt drücken können, werden mit diesem Buch nicht glücklich werden. In den meisten Fällen handelt es sich bei den mit großem Brimborium präsentierten innovativen Organisationskonzepten um die Neuverpackung von postbürokratischen Organisationsprinzipien, die bereits seit Langem bekannt sind. Mit teilautonomen Produktionsgruppen, die regelmäßig jedes Jahrzehnt unter neuem Namen als revolutionäre Erfindung propagiert werden, wurde schon sehr früh in Deutschland und Großbritannien experimentiert. Die Forderung nach einer Enthierarchisierung von Organisationen findet sich bereits bei der Managementvordenkerin Mary Parker Follett (1941: 158), die schon vor Jahrzehnten verlangte, dass die "vertikale Autorität" in Organisationen durch eine "horizontale Autorität" ersetzt werden solle. Die Innovation bei neuen postbürokratischen Organisationskonzepten liegt inzwischen fast nur noch in der Erfindung neuer Begriffe. Die "flexible Firma" von gestern wird heute als "agiles Unternehmen" und morgen vermutlich als "systemischer Betrieb" bezeichnet. Die Adhocratie von gestern wird heute "teambasierte" Organisation und morgen vielleicht "holikratische Organisation" genannt. Was früher als "Expertennetzwerke" gepriesen wurde, wird heute als "communities of practice" und morgen wohl als "crowds of wisdom" vermarktet. Aus einer distanzierten Perspektive ist ein solcher Drang nach Neuigkeitsdramatisierung nachvollziehbar. Gerade Manager, die neu in eine Organisation eintreten, sehen sich gezwungen, durch begriffliche Innovationen zu zeigen, dass sie die Dinge anders angehen als ihre Vorgänger. Berater befinden sich mit anderen Beratern nicht nur in einer Konkurrenz um Kunden, sondern gerade auch um die Meinungsführerschaft über Organisationskonzepte, und erfinden deswegen immer wieder neue "buzz words", um ihre Kunden zu beeindrucken. Wirtschaftsjournalisten können ihren Lesern, die sich an aktuellen Entwicklungen orientieren, schwerlich verkaufen, dass - trotz aller Phantasie bei der Erfindung neuer Managementkonzepte - in den Organisationen vom Prinzip her häufig alles beim Alten bleibt, und beteiligen sich deshalb immer wieder daran, wenn eine neue Sau durch die organisationalen Dörfer getrieben wird. Die Erfindung immer neuer Bezeichnungen für postbürokratische Organisationsformen kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Probleme weitgehend die gleichen bleiben. Ich nutze deswegen die verbale Aufgeregtheit in der Managementliteratur lediglich, um in Auseinandersetzung mit den vermeintlich neuen Organisationsprinzipien grundlegende wissenschaftliche Einsichten in die Funktionsweise von postbürokratischen Organisationen so aufzubereiten, dass sie an die Diskussionen von Praktikern anschlussfähig sind. Mir ist es dabei jedoch nicht wichtig, unbedingt die allerletzte Wende im Managementdiskurs mitzuvollziehen, weil ich davon ausgehe, dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches in der Lage sein werden, die zentralen organisatorischen Prinzipien in neu verpackten Managementkonzepten zu identifizieren und den Brückenschlag zu den hier dargestellten Problembereichen postbürokratischer Organisationen herzustellen. Wer weiß, woran "Adhocratien" oder "teambasierte Organisationen" kranken, kennt auch die grundlegenden Probleme der ähnlich gebauten "agilen", "modularen", "fraktalen" oder "zellulären" Organisationen. Die drei Seiten der Organisation Will man Organisationen verstehen, muss man drei relevante Aspekte unterscheiden:1 Bei der formalen Seite von Organisationen handelt es sich um das verschriftlichte Regelwerk und die offiziellen Anforderungen, die die Mitglieder - jedenfalls in ihrer Darstellung gegenüber anderen Mitgliedern - befolgen bzw. erfüllen müssen, wenn sie Mitglied der Organisation bleiben wollen. Weil sich über die formale Seite nur ein Teil der Erwartungen in Organisationen regulieren lässt, bildet sich immer auch eine informale Seite aus. Hierbei handelt es sich nicht nur um organisationstypische Denkweisen und Wahrnehmungsformen, sondern besonders auch um ...