Beschreibung
Ein kleines Tief setzt sich von Grönland aus in Richtung Westeuropa in Bewegung. Am selben Tag bittet Armanda ihre Schwester Lidy, am Wochenende einen Besuch bei ihrem Patenkind in Zeeland zu übernehmen. Unterdessen will sie selbst Lidys zweijährige Tochter hüten und mit Lidys Mann auf eine Party gehen. Armanda ahnt nicht, dass sie mit ihrem kleinen Rollentausch das große Schicksal provoziert: Lidy gerät in jene Sturmflut, die einen Teil der Niederlande für immer von der Landkarte tilgen wird.
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Aus den trichterförmigen Seegatts donnerte die noch immer steigende Flut überall gegen die Küstenschutzwerke. Auf der Südseite der Insel waren diese niedriger und ein ganzes Stück kümmerlicher als im Norden, wo man wegen des ewigen Nordwestwinds die See nun mal am ernstesten nahm. Der Citroën fuhr währenddessen nach Norden. Lidy, ganz über den Schlaf und auch über ihre anfängliche Verwirrung hinaus, sah, daß Izak Hocke den Weg gut kannte und sich, den Wind genau von vorn, nur auf das Fahren konzentrierte. Sie spürte seine Anspannung, doch keineswegs Angst oder Panik. Aber er hatte es eilig, genau wie Simon Cau, so etwas merkt man sogar, wenn man die Hand vor Augen nicht sieht. Das heißt: Verärgerung, als das Auto plötzlich anhalten mußte. Der Motor ging aus. Gefluche von Hocke. Quer über der Straße lag ein Strommast und auch noch alles mögliche angewehte Zeug, darunter ein Stück orangerote Plane, die sich darin verfangen hatte. Schade, gerade jetzt, wo wir fast da sind, dachte sie. Grell aufleuchtend in den Scheinwerfern, sprang die Plane ihnen entgegen. Wie ein Hund an der Kette. Sie starrte in den Tumult. Sie wußte, daß irgendwo dahinter, vielleicht zwanzig, dreißig Meter von hier, zwei Bauernhöfe einander schräg gegenüberlagen. Links der von Simon Cau, von dem weder das Haus noch eines der Nebengebäude zu sehen war, doch rechts von der Straße, wo Izak Hocke mit Frau, Kindern und Mutter wohnte, entdeckte sie Licht. Ein Fenster im Obergeschoß zeigte an, daß die alte Frau, allein zu Hause, noch wach war. Sie beugte sich dem neben ihr Sitzenden zu, doch bevor sie ihn etwas fragen konnte, war er bereits ausgestiegen, ebenso Simon Cau. Was können sie denn tun? fragte sie sich. Die beiden Gestalten standen nach einigem vergeblichen Gezerre an der Sperre da und beratschlagten. Simon Cau, das Gesicht ihr zugewandt, nickte, während Hocke, den Kopf mit der tief heruntergezogenen Mütze vorgestreckt, die Arme ausbreitete und dabei die Schultern hochzog. Sie schaltete die Scheibenwischer aus. Es regnete kaum mehr. Neugierig wanderte ihr Blick zu dem kleinen, leuchtenden Viereck in der Ferne, und plötzlich wußte sie genau: Er läßt das Auto lieber mitten auf der Straße stehen, als sie noch fünf Minuten länger allein zu lassen. Von diesem Moment an spürte sie, daß sie in Gefahr war. Sie hatte gesehen, wie Izak Hocke auf die andere Seite der Barrikade kletterte und, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, im bodenlosen Dunkel verschwand. Simon Cau war zum Auto zurückgegangen, er kroch hinters Steuer, startete und schaltete, als der Motor ansprang, unbeholfen in den Rückwärtsgang. &34;Was jetzt?&34; fragte Lidy, die meinte, auf einmal habe der Sturm ordentlich zugelegt. &34;Wir fahren hinter dem Entladehafen längs. Dort biegen wir nach rechts ab. Dann kommen wir von der anderen Seite dorthin, wo wir hinmüssen.&34; &34;Wie lang wird das dauern?&34; Sie bekam nicht gleich eine Antwort. Es war nicht leicht, auf einer unter Wasser stehenden Straße mit Gräben auf beiden Seiten zu wenden. &34;Zehn, zwölf Minuten.&34; Lidy warf einen Blick zur Seite. Eine schwer zu erkennende Gestalt. Simon Cau, jetzt also ihre einzige Verbindung zu dem abstrakten Bett, das irgendwo inmitten dieser Gewalt für sie bereitstand und ihr winkte, in zehn, zwölf Minuten warm eingekuschelt schlafenzugehen. Dämmerschwarze Landschaft unter der leicht aufreißenden Bewölkung. Hier und da ein Hindernis, ein Haus oder eine Scheune. Lidy, noch immer an dieses Bett glaubend, war nicht verrückt. Überall schliefen hier Menschen im vollsten Vertrauen, obwohl sie wußten, obwohl sie als gegeben hinnahmen, daß dies ein Gebiet sehr alter und damit sehr tiefliegender Polder war. Je älter die Deiche, desto tiefer das Land. Rational oder irrational, im Laufe vieler Generationen war bei den Menschen dieser Region die unerschütterliche Überzeugung gewachsen, daß, wer hier lebte, in diesem triefend nassen, selbst angelegten Terrarium, hi ... Leseprobe