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Wie man das Meer sehen kann

Erzählungen

Erschienen am 16.09.2002
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446202238
Sprache: Deutsch
Umfang: 272 S.
Format (T/L/B): 2.6 x 21 x 13.4 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Sepúlvedas Geschichten spielen in der ganzen Welt, in Mexiko, Madrid, Santiago de Chile und Hamburg. Sie erzählen von Abenteuern, Fernweh und von schönen Frauen. Aber das große Thema sind die verpassten Gelegenheiten, die ungenutzten Chancen und die überraschenden Momente, die plötzlich einen Blick auf andere Welten öffnen.

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Kolbergerstaße 22
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Leseprobe

Ich habe nie etwas Böses getan. Ich weiß nur, daß ich jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen muß, damit ich Zeit habe, meinen Korb herzurichten, der immer ein einziges Durcheinander ist. Ich brauche Zeit, um festzustellen, wie viele Pfefferminz-, Anis- oder Veilchenbonbons ich einkaufen muß. Ich brauche Zeit, um festzustellen, wie viele Schokoladenriegel zerbrochen oder im Papier geschmolzen sind oder wie viele Marzipansoldaten mit zerbrochenen Holzgewehren ihre kriegerische Haltung eingebüßt haben und nur noch aus nutzlosen Beinpaaren oder lächelnden Gesichtchen bestehen. Ich brauche Zeit, um die Münzröllchen aus zehn, zwanzig, fünfundzwanzig und fünfzig Centavos zu machen. Aus Zeitungspapier muß ich exakte Rollen formen und dann mit schwarzer Tinte den jeweiligen Betrag darauf vermerken. Um das alles zu tun, brauche ich Zeit, aber auch, um meinen Henkelmann aufzufüllen und mein Butterbrot zu schmieren und dann mit dem kleinen Klapptisch und dem Korb im Arm nach draußen zu hasten, um den Sammelbus um sieben noch zu erwischen. Ich habe nie etwas Böses getan, aber mit den Leuten muß ich trotzdem vorsichtig sein. Es gibt immer welche, die mich nicht kennen, die auf meine stoppelkurz geschnittenen Haare starren, auf meine Glupschaugen, die ich angeblich habe, obwohl es mir selbst gar nicht so schlimm vorkommt, auf meine Kleidung, die ich aus dem Asyl habe, die aber immer sauber und gebügelt ist. Am schlimmsten ist, daß es immer welche gibt, die mich zu bestehlen versuchen, wenn der Korb nicht richtig geschlossen ist, weil zu viele Süßigkeiten darin sind. Das passiert immer montags und donnerstags, wenn ich zur Bodega gehe und die Süßigkeiten einkaufe, die mir fehlen. Wenn ich zur Plaza komme, sind da nur die Tauben, und es hat ganz den Anschein, als würden sie mich so gut kennen, daß mein Standplatz der einzige ist, den sie verschonen und an dem es nicht so aussieht, als hätte es geschneit, ganz verloren unter der Vogelscheiße. Ich glaube, die Tauben sind mir dankbar für die Brotreste, die ich in meinem Zimmer sammle und die ich ihnen jeden Freitag in einer Plastiktüte mitbringe. Ich glaube, daß die Tauben das wissen und deshalb meinem Platz Respekt entgegenbringen, im Gegensatz zu dem des Stummen, der Schuhe putzt. Er wirft immer Steine nach ihnen und versucht, die jungen Täubchen zu fangen. Er sagt, gekocht und mit viel Knoblauch wären sie gut für die Lunge. Ich glaube, die Tauben mögen den Stummen nicht; sein Platz ist immer mit weißer Scheiße bedeckt, und das bringt ihn fürchterlich in Rage. Wenn ich auf den Platz komme, bekreuzige ich mich als erstes vor dem Bildnis des wundertätigen Erlösers, aber bitten tu ich ihn nie um etwas. Ich weiß nicht, ich schäme mich, ihn um etwas zu bitten; er sieht immer so ernst aus, und zu seinen Füßen brennen immer so viele teure Kerzen. Nein. Ihn bitte ich um nichts, ich bekreuzige mich nur und habe eine Heidenangst, wenn ich in seine schrecklichen Augen blicke, in denen sich die Flämmchen der Kerzen spiegeln, daß es so aussieht, als würden die Augen Funken sprühen. Angst verspüre ich auch, wenn ich seinen Umhang aus rotem Samt betrachte; dieselbe Farbe trägt der Bischof bei der Prozession, wenn alle Heiligen an die frische Luft kommen und durch die Straßen getragen werden. Da muß ich ganz besonders aufpassen, weil jeder nur Augen für die Heiligen hat, und die Leute mir letztes Jahr zweimal den Klapptisch umgeworfen haben und auf meine Bonbons und Schokoladen getreten sind und ich danach mehrere Tage nichts zu essen hatte. Wen ich allerdings jedesmal um einen guten Tag bitte, das ist die Barmherzige Jungfrau. Die Jungfrau ist etwas Leseprobe

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