Beschreibung
Die Straße im Kopf " Für manche klingen zwanzig Quadratmeter klein. Für mich ist es unmöglich, diesen Raum zu füllen. Ich habe einen Tisch, an dem ich schreiben kann, und eine Matratze. Ich habe keinen Kleiderschrank. Alles, was ich habe, trage ich seit einem Jahrzehnt in meiner schwarzen Tasche. Ich habe eine Wohnung, aber kein Zuhause. Ich bin kein Straßenjunge mehr. Meine Geschichte ist weitergegangen. Mit meinem Aufbruch in eine neue Wohnung kam auch der Durchbruch. Plötzlich nicht mehr Straße, sondern Spiegel-Bestsellerautor.Für mich sind Türen aufgegangen, viele in eine ganz neue Welt. Ich kann nicht vergessen, wo ich herkomme. Ich trage Überlebensschuld mit mir. Das könnte ich sein, denke ich immer wieder, wenn ich die Menschen sehe, die immer noch auf der Straße sind. Ich dachte, ich werde keine 30 Jahre alt. Schau, was heute ist. " In eindringlicher, markanter Sprache erzählt Dominik Bloh, wie sich sein Leben seit seinem Bestseller Unter Palmen aus Stahl verändert hat. Wie schwer es ist, nach Jahren der Obdachlosigkeit wieder im "normalen" Leben Fuß zu fassen. Wie es sich anfühlt, in zwei Welten zu leben - der neuen als nicht mehr Obdachloser mit Dusche und Privatsphäre und dem alten Straßenleben, das immer noch da ist, in seinem Kopf, aber auch in der harten Realität vieler tausender Menschen, die in Deutschland ohne Obdach sind. Dominik bleibt nicht bei seiner eigenen Geschichte stehen. Er öffnet dem Leser die Augen für das Paralleluniversum, (das genau vor seiner Nase) existiert, aber meist nicht wahrgenommen wird. Und ganz ohne Klagen und Anprangern macht er klar, was passieren muss, um wirklich etwas zu verändern.
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Autorenportrait
Dominik Bloh, Jahrgang 1988, landete mit 16 in Hamburg auf der Straße, als seine Mutter ihn rauswarf. Er ging weiter zur Schule, machte Abitur, niemand merkte etwas. Nach fast 11 Jahren als Straßenjunge hat er heute eine kleine Wohnung in Hamburg, ist Vater geworden und arbeitet u.a. an einer Schule mit verhaltensauffälligen Jugendlichen. Sein Buch über die Zeit auf der Straße, Unter Palmen aus Stahl, war ein Spiegel-Bestseller. Bloh initiierte u.a. das Projekt 'GoBanyo', ein Duschbus für Obdachlose und erhielt für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz.
Leseprobe
Die Zeitung war ein universelles Werkzeug auf der Straße. Ob es schneite, es regnete, was blieb, waren nasse Klamotten, die an meinen Körper klebten. Da waren vielleicht noch ein paar Wechselsachen in meiner Tasche. Ich zog die Sachen an und kurze Zeit später waren alle Klamotten, die ich besaß, klatschnass. Der Wind war der Endgegner. Eisig zog er umher, fand seinen Weg bis hinein in die kleinsten Lücken und ließ mich bis auf die Knochen frieren. Ich habe dann die Zeitung aufgeblättert und sie mir unter den Hoodie gesteckt, das hat ein bisschen vor Wind und Wetter geschützt. Irgendwo habe ich gelesen, dass ein Mensch den Großteil seines Lebens in seinen Schuhen und im Bett verbringt. Auf der Straße lebt man nur in seinen Schuhen. Ich zog sie nie aus. In der Nacht schob ich Plastiktüten über die Schuhe, um das Innere des Schlafsacks nicht dreckig zu machen. Die Schuhe ausziehen konnte ich nicht. Abgesehen davon, dass es Leute gab, die meine Schuhe einfach klauen könnten, was häufig passierte, musste ich, noch dringlicher, immer bereit sein, sofort stabil auf beiden Beinen zu stehen. Ich bin da draußen permanent meiner Außenwelt ausgesetzt gewesen und ich wusste nie, wer als Nächstes vor mir steht. Was ich wusste, war, dass Menschen in ihren Schlafsäcken angepisst, abgestochen oder angezündet werden. Das sind keine Ausnahmen. Das passiert regelmäßig. Menschen, die auf der Straße überleben, werden dort brutal und hemmungslos getötet. Ich selbst stand vor zerbrochenen Flaschen, Holzlatten, zähnefletschenden Hunden, Messern und selbstgebauten Stichwaffen. Ich kann mich sogar an eine sehr aggressive Möwe erinnern, die im Sturzflug auf mich zuflog, weil ihre Kleinen ganz in der Nähe des Grünstreifens gerastet haben, wo ich auch für ein paar Stunden meinen Platz aufgeschlagen hatte. Sich dem barfuß gegenüberzustellen hätte mich in eine noch sehr viel nachteiligere Situation gebracht. Menschen ohne Obdach sind schutzsuchend. So lange muss man selbst um sein Überleben kämpfen. Deshalb blieben meine Schuhe immer an. Um einen festen Stand zu haben, um zuzutreten, um schnell wegrennen zu können. Alles konnte passieren. Es waren die Vormittage, an denen ich mich traute, die Schuhe für ein paar Stunden auszuziehen. Im besten Fall schien sogar die Sonne, und ich begab mich in eine der belebten Grünanlagen. Ich schaue mich um, hier ist keine Gefahr im Verzug. Ich sehe vor allem Mütter, die den Kinderwagen vor sich schieben. Andere joggen ihre Runden. Es ist eine friedliche Zeit, und ich habe genug Sicherheit, um mich angreifbar zu machen. Ein anderes Paar Schuhe habe ich nicht. Das würde zu viel Platz in meiner Tasche einnehmen. Die Schuhe sind vom Laufen durch die nassen Straßen, durch Pfützen, durch aufgeweichte Erde in den Parks und durch meinen Schweiß vollgesogen mit Wasser. Ich nehme die Seiten der Zeitung aus der letzten Nacht, knülle sie zusammen und stopfe die Schuhe aus. So können sie schneller trocknen. Aber nicht nur für praktische Dinge hat mir die Zeitung etwas genützt. Viele Tage und besonders die Nächte waren einsam. Da gab es nichts Schönes. Das Einzige, was ich tun konnte, war, es mir besser vorzustellen, als es eigentlich war. Ich saß irgendwo in der Nacht an einem Ort und habe die Zeitung vor mir aufgeschlagen. Ich habe mir ausgedacht, dass die Zeitung nun die Tischdecke meiner Großeltern ist. Sie hatten eine weiße Tischdecke mit Schnörkel Muster und Fransen daran. Ich habe immer etwas zu essen aufbewahrt, um es ordentlich auf das Papier der Zeitung zu legen. In meiner Phantasie habe ich mir dann vorgestellt, wie ich mit meiner Oma und meinem Opa gemeinsam Abendbrot esse. Es war dunkel, ich saß allein in der Kälte, es konnten Minusgrade sein, es konnte regnen oder schneien, aber während diesen Minuten war es mir warm, und es ging mir gut. Das Gefühl war wichtig. Es wäre sonst noch schwerer geworden. Für all diese verschiedenen Sachen habe ich die Zeitung benutzt. Ich habe sie zum Überleben gebraucht. Dass sich etwas verändern kann, ist für mich eine wichtige Botschaft. Ich habe es selbst erlebt. Als mein erstes Buch erschienen ist, kam kurz darauf die Möglichkeit, bei der Hamburger Morgenpost eine Kolumne zu schreiben. Dieselbe Zeitung, die ich über all die Jahre auf der Straße in den Nächten am Hauptbahnhof besorgte, um mit ihr durch die Nacht zu kommen. Ich konnte darin meine Texte veröffentlichen und schreiben, worüber ich wollte. So oft schien alles für mich ausweglos, als würde da nichts mehr für mich kommen. Ich habe es verbaut, verhauen, versaut. Keine Perspektive. Keine Hoffnung. Keine Zukunft. Das wars. Es fällt schwer, an etwas Gutes zu glauben, wenn gerade alles schlecht ist. Ich habe jedoch für mich aus eigener Erfahrung gelernt: Solange ich hier bin, solange geht es weiter, und es werden immer wieder Chancen kommen. Deshalb ist es so wichtig, nicht aufzugeben. Es kann sich wirklich Vieles ändern. Damals hockte ich in Hundeparks, um wie die Hunde dort meinen Kot loszuwerden. Ich hatte jedes Mal das Gefühl, immer mehr wie ein Tier zu leben, wenn ich mich in den Busch gehockt habe, um zu scheißen. Danach mit Zeitungspapier den Arsch abwischen, das war absolut würdelos. Dieselbe Zeitung bezahlt mir heute die Miete, sodass ich ein Badezimmer benutzen und auf die Toilette gehen kann. Das ist eine echte Veränderung.