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Der Weltbürger aus Königsberg - Immanuel Kant heute

Person und Werk

Erschienen am 20.09.2023
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783737412216
Sprache: Deutsch
Umfang: 396 S.
Format (T/L/B): 3.6 x 21.5 x 15 cm
Lesealter: 16-99 J.
Einband: gebundenes Buch

Leseprobe

Seit einiger Zeit liebt man es, zwei angeblich einander entgegengesetzte Wissenschaftsbereiche, die Natur- und die Geisteswissenschaften, zu unterscheiden. Kant hingegen bewegt sich in beiden akademischen Welten. Zum einen studiert er zwei der heute so genannten MINT-Fächer (Mathematik, Naturwissenschaft, Informatik und Technik), nämlich Mathematik und Naturwissenschaften, hier Theoretische Physik und Experimentalphysik. Denn ein eigenes Fach Informatik gab es damals noch nicht, und die Technik war kein Universitätsfach. Zum anderen befasst er sich intensiv mit Geisteswissenschaften, hier nicht weniger als mit Theologie, Philosophie (dabei Logik, Metaphysik, Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie) und klassische lateinische Literatur, vermutlich auch mit Dichtkunst und Rhetorik. Der zugrundeliegenden Einstellung bleibt unser Philosoph sein Leben lang treu: einen möglichst weiten geistigen Horizont zu durchschreiten, auch wenn dieser im Laufe der Jahre unterschiedliche Schwerpunkte und manche Horizontverschiebung erhalten wird. Für Kant, den Wissenschaftler, versteht es sich, dass er sich dabei nicht von den Ansprüchen kreativer Wissenschaftlichkeit dispensiert. Kant verfasst zwar keine thematisch weitgespannten Lehrbücher oder Kompendien, die den bisherigen Wissensstand nur zusammenfassen, ohne ihn jedoch um neue Erkenntnisse zu bereichern. Im Gegenteil entwickelt unser Philosoph in jeder seiner Veröffentlichungen neue Einsichten. Die Themen ändern sich jedoch. Kant behandelt kaum einmal ein und denselben Gegenstand unter einem nur wenig abgewandelten Gesichtspunkt. Er nimmt sich immer wieder neue Fragen und Aufgaben vor, sodass auf ihn die verbreitete, aber häufig zu Unrecht angewandte Redensart passt: Der Philosoph ist ständig zu neuen Ufern unterwegs. Kant beginnt, erst 23-jährig, seine Autorentätigkeit mit einer umfangreichen Abhandlung (256 Seiten im Erstdruck), die den barocken Titel trägt: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (1747 beendet, 1749 veröffentlicht). Hier befasst sich Kant mit dem, was man heute kinetische Energie, damals 'lebendige Kräfte' nennt. Es geht nämlich um die Frage, wie man die Kraft (K) aus Masse (m) und Geschwindigkeit (v) zu berechnen hat. Knapp ein Jahrzehnt später veröffentlicht er als zweites Buch, ein für die damalige Zeit geradezu revolutionär kühnes Werk: die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). Diese noch aus heutiger Sicht höchst moderne Evolutionstheorie des Universums schiebt alle theologischen Argumente beiseite. Da deshalb 'von Seiten der Religion' Schwierigkeiten zu befürchten sind, lässt Kant die Schrift auf eine in der europäischen Aufklärungsepoche weit verbreitete Weise, nämlich ohne seinen Autorennamen, veröffentlichen. Nachdem jedoch die Anonymität gelüftet worden ist, sind die für etliche Theologen anstößigen Gedanken wohl ein Grund, dass Kant auf die frei gewordene Professur für Logik und Metaphysik (1756), obwohl er für sie bestens geeignet war, nicht berufen wird. Die Stelle, die er, peinlicherweise, erst ein Jahrzehnt später erhält, ist, zweite Peinlichkeit, eine Professur der Dichtkunst. Schon in der Vorrede der genannten Naturgeschichte stellt Kant seinen evolutionstheoretischen Grundgedanken vor: 'daß Gott in die Kräfte der Natur eine geheime Kunst gelegt hat, aus dem Chaos von selber zu einer vollkommenen Verfassung auszubilden'. Daran schließt er die von hohem Selbstbewusstsein zeugende Behauptung an: 'Gebt mir nur Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen' (I 229). Anders als der von ihm ansonsten bewunderte Newton beruft sich Kant nicht zusätzlich auf die Hand Gottes, sondern lediglich auf die 'Hand der Natur' (I 337), nämlich auf ihr 'eingepflanzte Kräfte und Gesetze' (I 334). Die aus rein natürlichen Ursachen folgende, ausschließlich mechanische Erklärung der Entstehung des Kosmos, diese Kosmogonie, bleibt in der wissenschaftlichen Welt zunächst unbeachtet.