Beschreibung
Die Anabasis Xenophons, zu Unrecht aus dem Schulunterricht verdrängt, ist eines der großartigsten Bücher der griechischen Prosa, sie ist gleichsam ihr Herz. Sie ist die einzige erhaltene Autobiografie in griechischer Sprache, aber gleichzeitig viel mehr als der Rechenschaftsbericht des Autors vor seinen athenischen Mitbürgern, die ihm sein Eintreten für den spartafreundlichen persischen Satrapen Kyros übelnahmen, und vor den griechischen Söldnern, die ihm, den sie zum Feldherrn gewählt hatten, vorwarfen, sich an ihren Beutegeldern zu bereichern. Das Werk erzählt vielmehr von den Abenteuern der 10 000 Söldner, die sich, nachdem ihre Mission - den Großkönig zu stürzen und dessen Bruder Kyros auf den Thron zu heben - gescheitert war, auf den gefahrvollen, tausende Kilometer weiten Weg aus dem Innern des Perserreichs zurück nach Griechenland machen mussten. Die Anabasis zeigt uns die Menschen einer Umbruchzeit in einer ihnen fremden und feindlichen Umgebung und in Situationen, die über Leben und Tod entscheiden. Alexander der Große und Caesar nahmen das Werk zum Vorbild und schließlich wurde es das meistgelesene Buch der Antike. Noch in der Moderne begeisterte es Leser wie Heine, Tolstoi oder Joyce.
Autorenportrait
Wolfgang Will lehrt als Privatdozent an der Universität Bonn. Er verfasste mehrere Bücher zur griechischen Geschichte. Im S. Marix Verlag erschien von ihm eine Neuübersetzung von Xenophons Hellenika (2016) sowie die Quellensammlung Die Perserkriege (2019).
Leseprobe
(1) Es war bereits um die Zeit, zu der sich der Markt füllt, und der Platz war nahe, an dem Kyros zu rasten gedachte, da sahen sie Pategyas, einen vornehmen Perser aus dem Gefolge des Kyros, von fern mit äußerster Kraftanstrengung auf einem schweißbedeckten Pferd heranreiten, und sogleich schrie er allen, auf die er traf, in persischer und griechischer Sprache zu, der Großkönig nahe mit einem zahlreichen Heer, zur Schlacht gerüstet. (2) Da entstand ein großes Durcheinander, denn die Griechen und alle anderen glaubten, er werde sogleich über sie herfallen, bevor sie sich noch geordnet hätten. (3) Kyros sprang vom Wagen, legte seine Rüstung an, stieg auf sein Pferd, nahm seine beiden Speere und befahl allen, sich zu bewaffnen und sich in Schlachtordnung aufzustellen. (4) Sie taten es in höchster Eile. Klearchos hielt den rechten Flügel zum Euphrat hin, Proxenos schloss sich an, Menon bildete mit seinen Leuten den linken Flügel der Griechen. (5) Aus dem Heer der Barbaren stellten sich an die 1000 paphlagonische Reiter neben Klearchos auf dem rechten Flügel auf, dazu die griechischen Leichtbewaffneten; auf dem linken Flügel fanden sich Ariaios, der Unterfeldherr des Kyros, und das übrige Heer der Barbaren. (6) Kyros und seine Reiter, ungefähr 600 (nahmen das Zentrum ein), alle mit Ausnahme des Kyros mit Brust- und Schenkelpanzern sowie Helmen gerüstet. Kyros ging mit unbedecktem Haupt in die Schlacht. Wie es heißt, trotzen auch die anderen Perser mit unbedecktem Kopf den Gefahren der Schlacht. (7) Alle Pferde im Heer des Kyros trugen Stirn- und Brustschutz, die Reiter aber führten das griechische Kurzschwert. (8) Und schon war es Mittag, und noch immer zeigten sich die Feinde nicht. Als es Nachmittag wurde, sahen sie in der Ferne Staub aufwirbeln, der zunächst einer weißen Wolke glich, sich geraume Zeit später aber wie schwarzer Nebel über die Ebene ausbreitete. Als die Feinde näher kamen, blitzte hier und da Erz auf; Lanzenspitzen und die Ordnung der gegnerischen Reihen zeichneten sich ab. (9) Den linken Flügel bildeten Reiter in weißen Panzerhemden, wie es hieß, unter dem Befehl des Tissaphernes. Es schlossen sich Leichtbewaffnete mit geflochtenen Schilden an, dahinter Schwerbewaffnete mit hölzernen Schilden, die bis zu den Füßen reichten. Dies waren Ägypter, wie es hieß. Danach wieder Reiter, anschließend Bogenschützen. Sie alle marschierten, nach Völkern geordnet, jedes im geschlossenen Karree. (10) Vor ihnen fuhren in weitem Abstand voneinander die sogenannten Sichelwagen. Die einen Sicheln standen von den Achsen seitlich ab, während diejenigen unter dem Wagenkasten der Erde zugekehrt waren, um alles zu zerhauen, was in den Weg kam. Die Absicht war, die Wagen in die Reihen der Griechen zu lenken und sie auseinanderzusprengen. (11) In einem Punkt freilich hatte sich Kyros getäuscht, als er die Griechen zusammenrief und ermutigte, sie müssten nur das Geschrei der Perser aushalten. Denn nicht mit Geschrei, sondern in größter Stille, ruhig, gleichmäßig und langsamen Schritts rückten sie heran. (12) Unterdessen ritt Kyros mit dem Dolmetscher Pigres und drei oder vier anderen die Front entlang und rief Klearchos zu, er solle seine Truppen gegen die Mitte der Feinde führen, weil sich dort der Großkönig befände. 'Und wenn wir dort siegen', sprach er, 'ist uns alles geglückt'. (13) Obgleich Klearchos die dichtgedrängte Menge in der Mitte des feindlichen Heeres sah und von Kyros hörte, der Großkönig stehe außerhalb des linken Flügels der Griechen - an der Menge seiner Truppen war der Großkönig nämlich so überlegen, dass er, obschon er in der Mitte seiner Truppen stand, sich dennoch außerhalb des linken Flügels des Kyros befand -, wollte er dennoch aus Angst, auf beiden Seiten eingeschlossen zu werden, nicht den rechten Flügel vom Euphrat abziehen, und antwortete dem Kyros, er wolle schon Sorge tragen, dass die Sache gut ausgehe. (14) In der Zwischenzeit rückte das persische Heer gleichmäßig vor, während das griechische auf der Stelle verharrte und seine Reihen immer noch aus Nachzüglern ergänzte. Kyros ritt geraden Frontlinie herauswogte, begann der zurückhängende Teil, in den Laufschritt zu verfallen. Und zugleich brachen alle in das Kriegsgeschrei aus, wie sie es zu Ehren des Enyalios zu tun pflegen, und bald liefen alle miteinander. Einige berichteten, sie hätten auch mit den Lanzen an die Schilde geschlagen, um den Pferden Schrecken einzujagen. (19) Bevor sie noch ein Pfeilschuss erreichen konnte, machten die Barbaren kehrt und flohen. Da verfolgten sie die Griechen unter Aufbietung aller Kräfte, wobei sie sich zuriefen, nicht in den Laufschritt zu verfallen, sondern ihnen in geschlossener Reihe nachzusetzen. (20) Die Sichelwagen ohne Lenker durchbrachen teils die Reihen der Feinde selbst, teils auch die Reihen der Griechen. Wenn sie aber die Wagen kommen sahen, wichen sie aus. Manch einer wurde auch erfasst, weil er, wie auf der Rennbahn, voll Staunen zusah. Aber auch von denen soll keiner verletzt worden sein. Überhaupt wurde auch sonst kein Grieche in dieser Schlacht verwundet, nur auf dem linken Flügel wurde, wie es heißt, ein Mann von einem Pfeil getroffen.