Beschreibung
Wie ein Blitz trifft uns die Nachricht,wenn einer der Erfolgreichen und Berühmten das Leben plötzlich nicht mehr erträgt. Der Suizid als letzte Konsequenz quälender Depressionen beleuchtet für einen grellen Augenblick die Widersprüche zwischen glänzender Oberfl äche und innerer Verzweifl ung. Die ihr gut bekannte Welt des Leistungssports ist für Ines Geipel jedoch nur Bild und Inbegriff unserer enorm beschleunigten Erfolgsgesellschaft. Denn der Zwang zu unbegrenzter Leistungssteigerung, Flexibiliät und Selbstvermarktung macht nicht nur Sportler krank und depressiv. Letzten Endes - so bezeugen es ihre Gespräche mit führenden Psychologen und Seelenexperten - sind wir alle dem Wirbelsturm eines neuen Welttempos ausgesetzt und so in Gefahr, mit olympischer Rasanz unser inneres Gleichgewicht zu verlieren.
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Autorenportrait
Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch'. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch 'Verlorene Spiele' (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war. Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.
Leseprobe
VORWORT Sie ist schon überall, egal, ob in Softwareunternehmen oder in der Medienbranche, bei Versicherungsmaklern, Konzern-Managern, Audi-Arbeitern, Eliteathleten, Studenten oder Schulrektoren: Die bislang versteckte Krankheit Depression grassiert immer sichtbarer und erzwingt den millionen fachen Ausstieg. Nichts geht mehr. Schla osigkeit, Schattenwelten, Apathie, Schmerzen, Ängste, Panik und das Gefühl der Ohnmacht, es nicht mehr bis zum nächsten Moment schaffen zu können, werden zum versteinerten Alltag. Etwa ein Fünftel der Deutschen leidet an Depression, sagen aktuelle Umfragen. Doch warum kapituliert das exible Selbst gegenwärtig mit einer Dramatik, dass die Weltgesundheitsorganisation das globale Phänomen für 2020 zur Krankheit Nummer zwei erklärt hat? Was setzt dem modernen Ich derart zu, dass es die Reißleine ziehen muss? Kann man das um sich greifende Seelen asko auch als Kollaps des kollektiven Unbewussten verstehen ? Und wenn ja, warum? 'Seelenriss' beginnt am 10. November 2009. Es war der Tag, als sich Robert Enke, 32 Jahre alt und deutscher Nationaltorwart, auf den Gleisen bei Eilvese in Niedersachsen das Leben nahm. Trauer und Entsetzen überzogen das Land. Nur Stunden später meldeten die Medien, dass der Tod des Spielerstars durch schwere Depressionen verursacht worden war. Eine privat gelebte Krankheit wurde zum öff entlich diskutierten Zeitzeichen. Das Buch sucht genau diese Nahtstelle, indem es Einzelschicksale mit Geschichte und gesellschaftlicher Gegenwart verknüpft. Depression erzählt sich damit nicht nur als Metapher oder generischer Begriff, nicht nur als Forschungsmaterial oder Fall für die klinische Psychiatrie. Die Genese dieser Krankheit eröffnet den Blick auf eine dunkle Grammatik des Selbst, wie sie gleichzeitig an ihrem ganz eigenen Gesellschaftspanorama schreibt. Da geht es um den Sport als stilprägendes Leistungsparadigma, um das nervöse Nervenattern vor 100 Jahren, um Züchtigungsprogramme, deutsche Traumata und Generationentransfers, um den alten Zeppelin und junge Bologna-Studenten, um das Memorandum 'Das optimierte Gehirn' und Neuro-Enhancements, um Hirnschrittmacher und die aktuelle Langzeitdepressionsstudie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, um die neuen Algorithmen und Megamaschinen, aber auch um die Seelen der Häftlinge im Strafvollzug Butzbach. Deutschlands Depressionsbarometer, so belegt es das Buch, schlägt im Verhältnis zu anderen Industrieländern deshalb doppelt so stark aus, da uns nicht nur globale Entwurzelungs prozesse schwer im Griff haben. Trotz unentwegt anderslautender Bekundungen ist die Deutschland-Psyche neben all der gegenwärtigen Sinnerosion noch immer mit einer unerlösten Kollektivschuld befasst, und das bis in die Generationen hinein, die Krieg und Teilung nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen. Das heißt, es bleibt beim Notfall Seele ? Ines Geipel, Berlin im Juli 2010 DEUTSCHLANDPSYCHE JUST IN TIME 1. MEHR SIEGE, MEHR TORE, MEHR NETTO ! ROBERT ENKE Aller Trost ist trübe. Rainer Maria Rilke 10. NOVEMBER 2009. Ein Schattentag. Grau vernebelt, langsamer als sonst, mit einer heiter vertrödelten Katerstimmung. In Berlin wurden die Reste vom vorabendlichen 'Fest der Freiheit', dem 20. Mauerfall-Jubiläum, von den patschnassen Straßen gefegt. Die Leute hockten in den Cafés um das Brandenburger Tor oder in den U-Bahnen. Viele hatten die Köpfe in den Zeitungen, noch einmal ganz mit den Bildern beschäftigt, die vor Stunden erst um die Welt gegangen waren: die eintausend umgekippten, bunt bemalten Styropor-Platten über anderthalb Kilometer als Maueradaption, die politische Symbolik unter den großen Regenschirmen, die acht tanzenden Friedensengel auf den Dächern von Berlin, jede Menge Bier und Rotkäppchen-Sekt, ein Meer jubelnder, verfrorener Gesichter, da und dort eine Träne, am Ende das große Feuerwerk. Die glücklichste Feier der späten Nation Deutschland. Die dann doch wiederum zu früh gekommen sei, lautete das Festtags-Resümee einiger Blätter. Es hätte an Ideen gehapert, vor allem aber an der Form. Der spätmorgendliche Berlin-Sound wie auch immer freundlich gedimmt, auch am Berliner Hauptbahnhof, wo sich die Massen weich, ja fast milde gestimmt ins Foyer schoben und man das Gefühl haben konnte, es solle gar nicht erst aufhören mit dem Feiern. Die Welt, die noch gestern - egal, ob in Los Angeles, Soa, London, Moskau, Paris - Mauern aus Eis, Schokolade, Pappmaché oder Beton einreißen ließ, schien an diesem Punkt der Stadt mit einem Mal unnahbar fern. Lediglich das riesige Stoffplakat zur Revolution in Polen, das in der Bahnhofshalle auch am Tag eins nach dem großen deutschen Jubel weiterhin verloren vor sich hin schaukelte, schien ein Hinweis dar auf zu sein, dass hier noch ganz andere Fäden zusammenliefen. Der ICE Richtung Hannover war rappelvoll, und schon beim Verlassen der Stadt verlor sich das strahlende Grau jenes besonderen Morgens. Als müsse die Landschaft draußen durch einen riesigen Ausnüchterungskorridor, tauchte sie in etwas, das man vielleicht mit kaltem Entzug bezeichnen würde. Schon hinter Spandau verdickte sich der lichte Nebel zur zähen Masse. Sie schleierte, dunstete, mäanderte nur so vor sich hin. Irgendwann war es einfach nur dichter Regen, der hart gegen das Abteilfenster schlug. Umstieg in Hannover auf den Regionalexpress gen Bremen/Oldenburg. Die Orte Leine, Seelze, Poggenhagen. Rübenland, Weideland, erweitertes Eulenspiegelland. Die Landschaft wurde acher und acher, der Zug ratterte gleichförmig, der Nebel stand und erinnerte an gestockte Milch. Es dämmerte, und im Grunde war es egal, ob es auf 15, 16 oder 17 Uhr zuging. Man sah ohnedies faktisch nichts mehr. Höchstens, wenn der Druck der entgegenkommenden Züge knallend gegen die Scheibe schlug, blitzten kurz ein paar Lichter auf. Es war, als sollte das Abteil in dem Moment aus den Angeln gehoben werden. 'Die Strecke von Hannover nach Bremen wird als Mischverkehrsstrecke sowohl von Reise- als auch Güterzügen stark frequentiert', heißt es bei Wikipedia. Der Express glitt, die Leute schwatzten, lasen, telefonierten. Es ging nach Hause. In diese neblige Feierabendstimmung hinein kam es an diesem Tag, um diese Zeit, an diesem Ort - bei Eilvese, keine vierzig Kilometer von der Landeshauptstadt Hannover entfernt - zur Katastrophe. Robert Enke, 32 Jahre alt, Torwart der deutschen Nationalmannschaft und des Fußball-Bundesligisten Hannover 96, stand auf dem anderen Gleisbett. Er wusste, dass der Regionalexpress 4427 jede Minute kommen musste. Um 18.17 Uhr war er da und überrollte ihn. Aufschrei, Starre und Anteilnahme überzogen das Land. Der Suizid eines Unverwundbaren, der dar auf konditioniert war, im Spiel der Spiele als letzte Bastion alle Gefahr abzuwehren, dessen Passion und Beruf es war, auf den Punkt genau richtig zu stehen, um für die Mannschaft, den Verein, die Fans, das Land die Kohlen aus dem Feuer zu holen ? Der Tod von einem, der auf dem Zenit seiner Karriere stand und sieben Monate später für Deutschland die Weltmeisterschaft seines Lebens spielen sollte? Robert Enke, ein Leistungsidol und Star, der Mythos einer Generation - er war tot ? Auf dem Vorplatz des Stadions von Hannover 96 hingen am nächsten Morgen 16 grünschwarze Fahnen auf halbmast. Hunderte Menschen kamen, für die gemeinsame Kerze, die Blume, das Gebet, den Beistand. Zeitungen, Fernsehen, Medien kannten kein anderes Thema. Nur Stunden später, um 13 Uhr, begann der Pressechef des Clubs, Andreas Kuhnt, die anberaumte Medienkonferenz vor knapp 300 Journalisten mit den Worten: 'Es ist ein trauriger Tag für viele, viele Menschen in Europa, ganz besonders hier bei uns in der Region Hannover. Wir haben mit Robert Enke einen Menschen verloren, der uns nah war oder vielleicht auch nur so schien. Er war ein besonderer Mensch, und er ist nicht mehr in unserer Mitte.' Dann bat der Pressechef die Anwesenden darum, von Fragen abzusehen. Es ginge um Tabus. Einige seien immer noch nicht so weit, dass man sie offen ansprechen könne. ... Leseprobe
Inhalt
Vorwort 7 I DEUTSCHLAND-PSYCHE JUST IN TIME 1. Mehr Siege, mehr Tore, mehr Netto! RobertEnke 11 2. Einst stolze, schöne Schiff e Ute Krause 61 3. Bänder, Knoten, Netze, Nester 1914/2010: ein Stück Deutschland-Psyche Rosa Schramm, Nina Orff und Ella Orff 94 II DAS DRIFTENDE ICH 4. Genaue Lande-Anweisung Stephan A.Jansen 155 5. Halt auf Verlangen MarianneLeuzinger-Bohleber 185 6. Woyzeck & Co GötzEisenberg 210 Danksagung 234 Literaturauswahl 235
Schlagzeile
Depression - Der Schatten von Tempo und Erfolg