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No Limit

Wie viel Doping verträgt die Gesellschaft

Erschienen am 15.07.2008
18,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608944587
Sprache: Deutsch
Umfang: 182 S.
Format (T/L/B): 1.7 x 20.7 x 12.8 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Ines Geipel unternimmt eine bedrückende Bestandsaufnahme. Wie hat das Doping sich entwickelt? Wer dopt wie und mit wessen Hilfe? Mit welchen weiteren Auswüchsen haben wir zu rechnen? Und welchen Preis werden wir dafür zahlen müssen? Denn Doping ist längst nicht mehr nur ein Problem des Spitzensports, sondern inmitten der Gesellschaft angekommen - in den Fitnessstudios, Büros, an der Börse, in der Politik und an Schulen. Leistungssteigerung lautet das Gebot der Stunde. Der Traum vom optimierten Menschen in effizienten Zeiten geht um. Ines Geipel macht uns mit den Risiken und Nebenwirkungen vertraut - als dessen albtraumhaften Folgen.

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Hersteller:
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DE 70178 Stuttgart

Autorenportrait

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch'. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch 'Verlorene Spiele' (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war. Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.

Leseprobe

Kulissenumbau im chinesischen Sportsystem - Von Daliwan, Medaillenramsch, Guanxi und Tibetischen Doggen Die magische Arznei für Weltrekorde basiert auf einem Reis gericht mit einer Mischung aus Brustbeerensaft, Hunderagout, Hühnerbrühe und Pilzextrakten. MA JUNREN, CHINESISCHER LAUFTRAINER, 1993 Daliwan. Frau Zou kommt immer ein paar Minuten früher zur Arbeit. Sie läuft dann im Schwimmbad umher, sortiert Tücher, wischt ein Stück Boden, tupft die Finger ins Wasser, um die Temperatur zu prüfen. Sie mag die Atmosphäre, wenn sich die Wellen im Glas der Fenster kräuseln, sie ihre Schritte auf den Fliesen hören kann. Bald wird hier wie jeden Tag Hochbetrieb herrschen. Dann kommen die Arbeiter aus den riesigen Autowerken, die ganz in der Nähe liegen. Frau Zou sitzt in einer Kabine auf einem Hocker und schrubbt einem Mann den Rücken, kurz darauf wird sie zum Eingang gerufen, weil ein Kind irgendwas verschüttet hat, dann soll sie ein Becken auswischen, Papier einsammeln, in den Toiletten nach dem Rechten schauen. Sie ist 41 Jahre alt und in der Halle das Mädchen für alles. 43 Euro bekommt sie dafür als monatliches Salär. 'Wenn ich den Leuten den Körper schrubbe, entspannen sie sich. Dann kommen sie zur Ruhe und fangen an zu reden', sagt Frau Zou. Dabei ist sie es, viel zu die erzählen hat: wie sie mit 13 Jahren in Chanchun auf die Sportschule kam und mit dem Gewichtheben begann. Wie ihr der Trainer mit der ersten Ein heit Tabletten namens Daliwan gab und ihr sagte, dass die ihren Körper von vornherein besser auf das viele Krafttraining einstellen würden. Wie sie nicht mehr zur Schule ging, sondern das Hantelstemmen ihr Beruf wurde. Wie man sie bald zum Mitglied der Nationalmannschaft machte und ihr Leben aus Trainingslagern, Chemie und exzessivem Hanteltraining bestand. Wie sie vor Auslandshöhepunkten regelmäßig Maskierungsspritzen bekam, damit das Doping in den einschlägigen Tests nicht auffallen konnte. Wie sie mit dem Trainer darüber sprechen wollte, er aber nur sagte, dass das alle nähmen und die Substanzen keinerlei Nebenwirkungen hätten. Die Geschichte der kaum 50 Kilo schweren Frau, die sie nur zögerlich preisgibt, handelt davon, wie sich ihr Körper nach und nach veränderte, männlicher und muskulöser wurde. Beim Erzählen deutet sie auf ihren Bart, die herben Gesichtszüge. Sie berichtet von einem kranken Rücken und kaputten Gelenken. Auch davon, dass sie den Sport so lange gemacht habe, bis es körperlich nicht mehr ging. In dieser ganzen Zeit sei sie ihrem Land unendlich dankbar gewesen. Immer habe sie das Gefühl bestimmt, China etwas zurückgeben zu wollen. An dieser Stelle hält Frau Zou inne. Man sieht, dass sie mit sich ringt. Seit Jahren lebe sie in einem schweren Konflikt, fährt sie irgendwann fort: Sie sei gar keine Frau mehr. Jeden Tag spüre sie das. Aber die Angst, sich zu outen, sei da, wo sie lebe, sehr groß. Ihr sei klar, dass eine Geschlechtsumwandlung in China ein Problem darstelle. So weit ist diese Gesellschaft aber nicht, meint Frau Zou und lässt sich derweil monatlich weibliche Hormone spritzen, damit sie in ihrem Geschlecht bleibt. Frau Ai hat einen Straßenstand in einem Vorort von Peking. Sie verkauft Obst, Getränke, chinesische Snacks. Wenn der Job es ihr erlaubt, versucht sie zu sitzen. Sie kann kaum stehen. Ihre Bewegungen wirken schwerfällig. Man sieht, dass der Frau Mitte 30 jeder Schritt Schmerzen bereitet. Das kommt, weil ihre Füße ungemein verformt sind. Dabei hat sie ihren Füßen viel zu verdanken. Weltweit hat Frau Ai Mara thon um Marathon gewonnen, war Weltmeisterin und hat 16 internationale Goldmedaillen geholt. Um die Jahrtausendwende gehörte sie zum schnellen Team von Wang Dexian, einem Trainer, der mit seinen Übungsmethoden traurige Furore machte. Einer seiner Weltstars, die durch Doping aufgefallene Langläuferin Sun Yingjie, berichtete 2006 einem chinesischen Fernsehsender: 'Er hat mich geschlagen. Mein Rücken war übersät mit Blutergüssen. Ich konnte manchmal meine Kleidung nicht mehr allein wechseln. ' Die ehemalige WM-Dritte über 10 000 Meter trennte sich von ihrem Trainer, nachdem dieser sie mit der Schnalle eines Gürtels blutig geprügelt hatte. Unerhört offene Sätze für die ansonsten still lächelnden chinesischen Athletinnen. Und auch im Falle von Frau Ai staunte man zunächst, als sie Wang Dexian 2006 gerichtlich beschuldigte, die ihr zustehenden Wettkampfprämien von annähernd 201 000 Euro veruntreut zu haben. Da sie stichhaltige Unterlagen zu den Prämienmodi hatte, räumte man ihr große Chancen ein, den Prozess zu gewinnen. Doch wie bei Frau Zou obsiegten auch bei Frau Ai Angst und Loyalität. Sie schloss mit dem Sportverein, bei dem Herr Wang arbeitete, einen außergerichtlichen Vergleich, über dessen Höhe nichts bekannt wurde. Sonderlich hoch kann die Summe jedoch nicht gewesen sein, denn von Frau Ai weiß man, dass sie schon zum zweiten Mal versucht, ihre 16 Goldmedaillen für je 100 Dollar zu verkaufen, um sich und ihre zweijährige Tochter irgendwie durchzubringen. In ihrem Blog begründete sie den vollzogenen Vergleich mit den Sätzen: 'Meine Freunde haben mich darauf hingewiesen, dass bald die Olympischen Spiele in China stattfinden. Je länger mein Fall offenbleibt, desto größer ist der Imageschaden für unser Land. Sie rieten mir, mich zufriedenzugeben und eine Entschädigung zu akzeptieren. Ich sehe das auch so. In letzter Zeit erhielt ich viele Interviewanfragen von ausländischen Medien. Doch ich will nicht vor Ausländern über unsere dunklen Flecken reden.' Nebelkerzen. Dass die dunklen Flecken der chinesischen Sportdiktatur nicht weiter zutage treten, insbesondere nicht vor den Pekinger Spielen, dafür sorgen Partei und Geheimdienst, chinesische Sportoffizielle im Verbund mit der eintrainierten Angst der Athleten und nicht zuletzt die In ternationale des Sports, die gleichsam mantraartig und mittels allwöchentlich gleichlautender Presseerklärungen allerlei Verbes se run gen in Aussicht stellen. Der offizielle Sprachcode ist dabei bemerkenswert monoton. Und es geht immer um dieselben Themen: mehr Sprach- und Bildungsprogramme für chinesische Kinder, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, mehr Frei zügig keit für ausländische Medien. In den Augen des IOC sind es sowohl die große Politik als auch der Sport, die mit ausreichend Reformwillen viel Löbliches auf den Weg gebracht haben, um im Sommer 2008 endlich 'grüne', 'humanistische', 'harmonische', 'einmalige ', 'gut organisierte' und natürlich auch 'die saubersten' Spiele stattfinden zu lassen. Doch was von alledem ist Realität, was Kosmetik, was ein grundsätzlich globales Problem und was ein spezifisch chinesisches, wenn die Volksrepublik im Sommer mittels opulenter Symbolik nach 150-jähriger Randständigkeit endlich wieder in der Mitte der Weltgemeinschaft ankommen wird? Auf Grundlage welcher Fakten konnte der Oberolympier Jacques Rogge im Interview mit der 'Süddeutschen Zeitung' Ende 2007 eigentlich erklären: 'Es gibt kein organisiertes Doping in China. Weil sie clever genug sind zu wissen, dass es desaströs wäre. Die WADA sagt uns, China macht viele Tests, hat die Zahl der Labore vervielfacht und sie auf hohem Niveau eingerichtet.' Doping und Pekinger Spiele sind eine Art Lackmustest für das Regime, denn die Dopingbilanz des chinesischen Sports ist ein Desaster. Enorm viel ist investiert worden, um dieses Problem loszuwerden. Für die Offiziellen wäre es eine Katastrophe, wenn die eigene Mannschaft in Peking mit auch nur einem positiven Dopingfall auffällig würde. Der Megaevent vor aller Welt wäre hin. Was also bedeuten 'gut vorbereitete und organisierte Spiele', die der chinesische Premier Wen Jiabao am 4. März 2008 vor der ganzen Nation versprach? Was mag Frau Ai mit den 'dunklen Flecken' ihres Landes gemeint haben, über die sie mit der internationalen Presse nur ungern reden wollte? Wer spricht von internationaler Seite aus mit den Geschädigten des chinesischen Sports, nachdem die offizielle Sportzeitung Chinas 'Zhongguo Tiyu Bao' Ende 2...

Schlagzeile

Das politische Buch im Jahr der Olympischen Spiele