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Wicked - Die Hexen von Oz

eBook - Die wahre Geschichte der Bösen Hexe des Westens

Erschienen am 01.09.2010, 2. Auflage 2010
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608101560
Sprache: Deutsch
Umfang: 533 S., 2.57 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

»Wicked« erzählt die aufregende Vorgeschichte des »Zauberers von Oz«.»... Mit seinem beeindruckenden bunten, lebendigen Schreibstil lässt Maguire ein Land auferstehen, das dem von Oz gleicht, aber mit witzigen und zynischen Charakteren aufwartet. Eine literarische Traumreise.«(eclipsed, 05/08)Als Dorothy im »Zauberer von Oz« über die Böse Hexe des Westens triumphierte, bekamen wir nur ihre Version der Geschichte erzählt. Aber was ist mit der geheimnisvollen Hexe selbst? Woher kam sie? Wie wurde sie so böse? Und nicht zuletzt: Wie gut ist das Gute und wie böse das Böse?Elphabas Geburt ist von einem Geheimnis begleitet, sie kam mit einer leuchtend grünen Haut zur Welt. Das eigensinnige Mädchen, das anders ist als die anderen, erlebt eine äußerst turbulente Kindheit: der Vater ein aufrechter und strenger Prediger, die Mutter eine leichtlebige Schönheit, dem Alkohol und den Männern zugetan.Während Elphaba an der Universität von Shiz Biologie studiert, ist der Zauberer von Oz dabei, die Rechte der »TIERE« - die im Gegensatz zu den einfachen Tieren sprechen können und eine Seele haben - beängstigend einzuschränken. Aber außer Elphaba scheint sich kaum jemand daran zu stören.In dem Oz von Maguire ist Elphaba, die »Böse Hexe des Westens«, gar nicht so böse, und sie ist auch keine richtige Hexe. Sie begegnet uns als eigenwillige Bewohnerin von Munchkinland, die radikale Schritte unternimmt, um den tyrannischen Zauberer von Oz zu stürzen ...Stimmen zum Buch»Spannend geschrieben, trotz des ernsten, mitunter beklemmenden Grundtons nicht ohne Humor und auf jeden Fall die unbedingt lesenswerte Vorgeschichte eines Kinderbuchklassikers.«Maren Bonacker (Bulletin Jugend& Literatur, 01.12.2008)»... Doch im Gegensatz zur stark vereinfachten Bühnenvariante bietet der Roman von Gregory Maguire ein neues und vielschichtiges Bild der altvertrauten Figur. Denn die "Böse Hexe des Westens" ist ein Mensch mit Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten. Sie liebt, hofft kämpft und scheitert. Oz ist kein verträumtes Zauberland, sondern ein von Intrigen und Kämpfen durchzogenes Land. So wie unsere Welt im wirklichen Leben.«Peter M Hetzel (Schweizer Illustrierte, 4.02.2008)»Halten Sie einen Platz frei im Regal zwischen "Alice im Wunderland" und "Der Hobbit" - es lohnt sich.« Kirkus Review»Bewitching« Chicago Tribune»Was muss ich tun?«, fragte das Mädchen.»Die Böse Hexe des Westens töten«, erwiderte Oz.L. Frank BaumDas Rekord-Musical seit 15. November im Palladium-Theater in StuttgartWeitere Informationen zum Musical unter: www.wicked-welt.de

Autorenportrait

Gregory Maguire, geboren 1954, lebt mit seiner Familie in Boston, Massachusetts. Vor Wicked hat er zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Das Musical Wicked wurde mit einem Tony ausgezeichnet und zog Millionen Besucher an.

Leseprobe

VORSPIEL Auf der Gelben Ziegelstraße Eine Meile hoch über Oz hing die Hexe hart vor dem Wind wie ein von den Luftturbulenzen aufgewirbeltes und fortgewehtes grünes Bröckchen Erde. Weiße und dunkelrote Sommergewitterwolken türmten sich ringsum auf. Unten beschrieb die Gelbe Ziegelstraße einen Bogen wie eine schlaffe Schlinge. Winterliche Unwetter und die Stemmeisen von Unruhestiftern hatten die Straße aufgerissen, doch das änderte nichts daran, dass sie wie ehund je zur Smaragdstadt führte. Die Hexe sah die Gefährten dahinstapfen, die kaputten Abschnitte umgehen, Gräben ausweichen, fröhlich hüpfen, wenn der Weg frei war. Sie schienen nicht zu ahnen, was sie erwartete. Doch es war nicht die Sache der Hexe, sie darüber aufzuklären. Sie saß auf ihrem Besen, als wäre er ein Treppengeländer, und kam so vom Himmel herabgesaust wie einer ihrer fliegenden Affen. Ihr Sturzflug endete auf dem obersten Ast einer Schwarzweide. Unter ihr, vom Laubwerk verborgen, hatten die Verfolgten eine Ruhepause eingelegt. Die Hexe klemmte sich den Besen unter den Arm. Lautlos kletterte sie Stückchen für Stückchen abwärts, bis sie nur noch fünf Meter über ihnen war. Der Wind bewegte die hängenden Zweige des Baumes. Die Hexe spähte und lauschte. Sie waren zu viert. Sie konnte eine große Katze erkennen - ein Löwe, oder? - und einen metallisch glänzenden Holzfäller. Der Holzfäller, der aus Blech sein musste, zupfte Nissen aus der Mähne des Löwen, und der Löwe brummelte und zuckte jedes Mal vor Unbehagen. Eine lebende Vogelscheuche fläzte in der Nähe und blies Pusteblumen in den Wind. Das Mädchen war hinter den wehenden Weidenvorhängen nicht zu sehen. »Wenn man den Leuten glauben darf, ist die überlebende Schwester regelrecht verrückt«, sagte der Löwe. »Eine Hexe, wie sie im Buche steht. Psychisch verkorkst, von Dämonen besessen. Geisteskrank. Kein schöner Anblick.« »Sie wurde bei der Geburt kastriert«, bemerkte der blecherne Holzfäller sachlich. »Sie kam als Hermaphrodit zur Welt oder komplett als Mann.« »Ach du, wo du hinschaust, siehst du Kastrierte«, sagte der Löwe. »Ich wiederhole nur, was die Leute sagen«, entgegnete der blecherne Holzfäller. »Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung«, sagte der Löwe von oben herab. »Sie hat keine Mutterliebe bekommen, so habe ich's gehört. Sie wurde als Kind misshandelt. Sie war süchtig nach dem Medikament gegen ihr Hautleiden.« »Sie hat kein Glück in der Liebe gehabt«, sagte der blecherne Holzfäller, »wie wir alle.« Er verstummte und legte sich wie leidend die Hand auf die Brust. »Sie ist eine Frau, die lieber mit anderen Frauen zusammen ist«, sagte die Vogelscheuche und setzte sich auf. »Sie ist die verschmähte Geliebte eines verheirateten Mannes.« »Sie ist ein verheirateter Mann.« Die Hexe war so verblüfft, dass sie beinahe den Ast losgelassen hätte, an dem sie sich festhielt. Auf Klatsch hatte sie noch nie etwas gegeben. Doch sie war den Menschen schon so lange entfremdet, dass sie über die Behauptungen dieser hergelaufenen Wichte staunen musste. »Sie ist eine Despotin. Eine gefährliche Tyrannin«, erklärte der Löwe entschieden. Der blecherne Holzfäller zog fester als nötig an einer Mähnenlocke. »Du findest alles gefährlich, du alte Memme. Wie ich höre, setzt sie sich für die Selbstbestimmung der sogenannten Winkies ein.« »Sie mag sein, was sie will, aber sie ist bestimmt traurig über den Tod ihrer Schwester«, sagte das Kind mit einer ernsten Stimme, die für so ein junges Ding zu weihevoll, zu innig war. Die Hexe überlief es kalt. »Werd jetzt bloß nicht rührselig. Mich rührt sie jedenfalls nicht.« Der blecherne Holzfäller rümpfte abfällig die Nase. »Aber Dorothy hat recht«, sagte die Vogelscheuche. »Gegen Trauer ist niemand gefeit.« Die Hexe ärgerte sich mächtig über diese gönnerhaften Betrachtungen. Sie schob sich um den Stamm des Baumes herum und machte einen langen Hals, um einen Blick auf das Kind zu erhaschen. Der Wind frischte auf, und die Vogelscheuche zitterte. Sie schmiegte sich an den Löwen und wurde von diesem zärtlich umfangen, während der blecherne Holzfäller ihm weiter Nissen aus der Mähne klaubte. »Ein Gewitter am Horizont«, sagte die Vogelscheuche. In der Ferne hallte der Donner. »Dort am Horizont ist eine - Hexe!«, sagte der blecherne Holzfäller und kitzelte den Löwen. Der Löwe erschrak und wälzte sich wimmernd auf die Vogelscheuche, und der Holzfäller warf sich auf alle beide. »Liebe Freunde, sollten wir uns nicht vor dem Gewitter in Sicherheit bringen?«, sagte das Mädchen. Endlich schob der Wind den grünen Vorhang beiseite, und die Hexe erblickte die Kleine. Sie hatte die Beine untergeschlagen und die Arme um die Knie geschlungen. Sie war kein zartes Geschöpf, sondern ein robustes Bauernmädchen in einem blauweiß karierten Trägerkleid. In ihren Schoß duckte sich winselnd ein hässlicher kleiner Hund. »Das Gewitter macht dich nervös. Kein Wunder nach dem, was du durchgemacht hast«, sagte der blecherne Holzfäller. »Entspann dich.« Die Finger der Hexe krallten sich in die Baumrinde. Das Gesicht des Mädchens konnte sie immer noch nicht sehen, nur die kräftigen Unterarme und den Hinterkopf mit den zu Zöpfen geflochtenen dunklen Haaren. Musste es ernst genommen werden, oder war es nichts weiter als ein vom Wind verwehter Pusteblumensame? Wenn ich das Gesicht des Mädchens sehen könnte, dachte die Hexe, wüsste ich wohl Bescheid. Doch genau in dem Moment, als die Hexe sich weiter zur Seite streckte, drehte das Mädchen sich weg und wandte das Gesicht ab. »Das Gewitter kommt näher, und zwar rasch.« Der Wind wurde stärker und damit auch die Dringlichkeit in seiner gepressten Stimme. Es klang, als kämpfte es mit den Tränen. »Ich kenne solche Unwetter, ich weiß, wie sie plötzlich über einen hereinbrechen!« »Hier sind wir am sichersten«, sagte der blecherne Holzfäller. »Ganz gewiss nicht«, versetzte das Mädchen. »Dieser Baum ist der höchste Punkt weit und breit, und wenn der Blitz einschlägt, dann hier.« Es drückte sein Hündchen an sich. »Haben wir nicht weiter vorn an der Straße einen Schuppen gesehen? Kommt, kommt! Vogelscheuche, wenn es blitzt, brennst du als Erster. Kommt schnell!« Es sprang auf und lief schwerfüßig los, und seine Gefährten folgten ihm, von jäher Angst getrieben. Als die ersten harten Regentropfen fielen, erblickte die Hexe zwar nicht das Gesicht des Mädchens, aber dafür die Schuhe. Die Schuhe ihrer Schwester. Sie funkelten selbst im Dämmerlicht des frühen Abends. Sie funkelten wie gelbe Diamanten und blutglühende Kohlen und dornige Sterne. Wenn ihr die Schuhe gleich aufgefallen wären, hätte die Hexe dem Mädchen und seinen Freunden niemals zuhören können. Aber die Füße des Mädchens waren vom Kleid verdeckt gewesen. Jetzt fiel der Hexe wieder ein, was sie eigentlich wollte. Die Schuhe mussten ihr gehören! Hatte sie nicht genug gelitten, hatte sie sich diese Schuhe nicht verdient? Die Hexe hätte sich vom Himmel herab auf das Mädchen gestürzt und ihm die Schuhe von den dreisten Füßen gerissen, wenn sie gekonnt hätte. Aber das Gewitter, vor dem die Gefährten auf der Gelben Ziegelstraße immer weiter und schneller davonliefen, beunruhigte die Hexe mehr als das Mädchen, das schon öfter im Regen nass geworden war, und die Vogelscheuche, die der Blitz verbrennen konnte. Die Hexe durfte sich in einem solchen heftigen, bis auf die Haut durchdringenden Guss nicht ins Freie wagen. Sie musste sich zwischen den freiliegenden Wurzeln der Schwarzweide verstecken, wo das Wasser ihr nicht zur Gefahr werden konnte, und warten, bis das Gewitter abzog. Sie würde wiederkommen. Bis jetzt war sie immer wiedergekommen. Das mörderische politische Klima in Oz hatte sie niedergeworfen, ausgedörrt, weggeweht - wie ein Same war sie dahingetrieben, anscheinend zu vertrocknet, um jemals irgendwo Wurzeln zu schlagen. Aber der Fluch lag zweifellos auf dem Land Oz, nicht auf ihr. Oz hatte ihr zwar ein verpfuschtes Leben beschert, aber hatte es sie nicht auch stark gemacht? Es spielte keine Rolle, dass die Gefährten ihr enteilt waren. Die Hexe konnte warten. Sie würden sich wiedersehen. Die Geburt einer Hexe Erst gegen Abend brachte Frex den Mut auf, das armselige Dörfchen Binsenrain zu betreten. Er war klatschnass vor Schweiß. Er stampfte mit den Fersen auf, schwang die Fäuste und rief mit rauher, weittragender Stimme aus: »Hört mich an, ihr Kleingläubigen! Versammelt euch, da es noch Zeit ist, denn die Versuchung gehet um, dass sie euch auf die Probe stelle!« Die Worte waren archaisch, geradezu lächerlich, doch sie taten ihre Wirkung. Herbei kamen die mürrischen Fischer mit ihren leeren Netzen, die sie vom See hinter sich her schleiften. Herbei kamen die Kleinbauern, deren kümmerliche Parzellen in diesem Dürrejahr wenig getragen hatten. Bevor er überhaupt angefangen hatte, schauten sie alle schon schuldbewusst drein. Sie folgten ihm zur morschen Treppe der Bootswerkstatt. Frex wusste, dass alle jeden Moment mit dem Eintreffen der bösen Uhr rechneten; die Nachricht griff um sich wie ein Lauffeuer. Er brüllte sie wegen ihrer lechzenden Erwartung an. »Dumm seid ihr wie die kleinen Kinder, die nach der schönen Glut die Hand ausstrecken! Ihr seid selber wie die Drachenbrut, begierig, an den Zitzen des Feuers zu lecken!« Das waren abgedroschene Mahnworte aus alten Schriften, und sie zogen an diesem Abend nicht so recht; er war müde und nicht in Form. »Bruder Frexspar«, sagte Bfie, der Bürgermeister von Binsenrain, »könntest du dich mit deiner Strafpredigt vielleicht etwas zurückhalten, bis wir uns selbst davon überzeugen können, welche neue Form die Versuchung diesmal annehmen wird?« »Ihr habt nicht das Zeug dazu, neuen Formen zu widerstehen«, sagte Frex und spuckte aus. »Bist du nicht in den letzten Jahren unser vorbildlicher Lehrer gewesen? «, sagte Bfie. »Eine so gute Gelegenheit, uns wider die Sünde zu bewähren, haben wir bisher kaum gehabt. Wir brennen richtig darauf - auf die sittliche Prüfung, meine ich.« Die Fischer lachten und johlten, und Frex blickte noch zorniger, doch als plötzlich das Knirschen schwerer Räder in den steinigen Furchen der Straße ertönte, drehten alle den Kopf und verstummten. Er hatte ihre Aufmerksamkeit verloren, ehe er richtig angefangen hatte. Die Uhr wurde von vier Pferden gezogen und eskortiert von dem Zwerg und seinem Schlägertrupp. Auf dem breiten Dach thronte der Drache. Aber was für ein Ungetüm! Er sah aus, als setzte er schon zum Sprung an, als wäre er wirklich lebendig. Die Seiten des Aufbaus waren in Jahrmarktsfarben gestrichen und mit Blattgold verziert. Die Fischer rissen staunend die Mäuler auf. Bevor der Zwerg den Zeitpunkt der Vorstellung bekanntgeben konnte, bevor der Trupp junger Männer die Keulen zücken konnte, sprang Frex auf die unterste Stufe, eine ausklappbare Trittfläche. »Warum nennt sich dieses Ding eine Uhr? Das einzige Ziffernblatt, das es hat, ist vor lauter ablenkendem Krimskrams gar nicht zu sehen. Außerdem bewegen sich die Zeiger nicht: Schaut her, seht selbst! Sie sind bloß aufgemalt und stehen auf einer Minute vor Mitternacht fest. Was ihr hier seht, ist nichts weiter als eine mechanische Spielerei, meine Freunde, nichts weiter. Ihr werdet mechanische Felder sprießen sehen, Monde zu- und abnehmen, einen Vulkan ein weiches rotes Stück Stoff mit schwarzen und roten Pailletten speien. Wenn es so ein tolles Tiktakding ist, warum können die Zeiger am Ziffernblatt dann nicht umlaufen? Warum nicht? Das frage ich euch, ja, dich, Gornette, und dich, Stoi, und dich, Perippa. Warum ist das keine richtige Uhr?« Sie hörten gar nicht zu, weder Gornette noch Stoi noch Perippa, und die anderen genauso wenig. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, erwartungsvoll zu gaffen. »Die Antwort lautet natürlich, dass die Uhr nicht die irdische Zeit messen soll, sondern die Zeit der Seele. Die Zeit der Erlösung und der Verdammnis. Für die Seele steht die Uhr jederzeit auf einer Minute vor dem Gericht. Eine Minute vor dem Gericht, meine Freunde! Wenn ihr in den nächsten sechzig Sekunden sterbt, wollt ihr dann die Ewigkeit in den vernichtenden Tiefen verbringen, die den Götzenanbetern vorbehalten sind?« »Ziemlicher Radau hier heute Abend«, sagte jemand im Dunkeln - und die Zuschauer lachten. Genau über Frex - er riss den Kopf herum - schaute aus einer Klappe ein kläffender kleiner Hund, dessen Haare so dunkel und kraus waren wie seine. Der Hund wippte an einer Sprungfeder, und sein Geblaffe war ohrenbetäubend schrill. Das Gelächter schwoll an. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass Frex nicht mehr genau erkannte, wer da lachte, wer ihm jetzt zuschrie, er solle beiseitetreten, damit man was sehen könne. Da er von alleine nicht wegging, wurde er höchst unfeierlich von seinem Standort entfernt. Der Zwerg hieß alle mit blumigen Worten willkommen. »Unser ganzes Leben ist ein sinnloses Hasten und Machen. Wie Ratten buddeln wir uns ins Leben ein, und wie Ratten wühlen wir uns hindurch, und wie Ratten werden wir am Ende ins Grab geworfen. Warum sollten wir da nicht hin und wieder einer prophetischen Stimme lauschen oder uns ein Mirakelspiel anschauen? Hinter der äußeren Falschheit und Nichtigkeit unseres Rattenlebens verbirgt sich doch eine einfache Ordnung, ein Sinn! Kommt näher, gute Leute, und erlebt, was ein wenig Wahrsagekunst über euer Leben zutage bringt! Der Zeitdrache blickt voraus ins Unsichtbare, er kennt die Wahrheit der kurzen Frist, die euch hier bemessen ist. Schaut her, was er euch zeigt!« Die Menge schob sich weiter vor. Der Mond war aufgegangen und schien wie das Auge eines zornigen, rächenden Gottes. »Hört auf! Lasst mich los!«, rief Frex. Es war schlimmer, als er gedacht hatte. Er war noch niemals von seiner eigenen Gemeinde herumgestoßen worden. Die Uhr führte eine Geschichte auf über einen öffentlich fromm tuenden Mann mit wolligem Bart und dunklen Ringellocken, der Einfachheit, Armut und Großzügigkeit predigte, dabei aber selbst eine geheime Schatulle mit Gold und Smaragden hatte, verborgen im aufklappbaren Busen einer verzärtelten Tochter der blaublütigen Gesellschaft. Der Halunke wurde auf höchst unappetitliche Weise mit einer langen Eisenstange gepfählt und seiner hungrigen Herde als Pfarrerrostbraten am Spieß serviert. »Das appelliert an eure niedrigsten Instinkte!«, brüllte Frex, die Arme verschränkt, knallrot vor Wut. Doch jetzt, wo es fast völlig finster war, griff ihn jemand von hinten an, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ein Arm legte sich um seinen Hals. Er verdrehte sich, um zu erkennen, welches verfluchte Gemeindemitglied sich so eine Frechheit erlaubte, aber alle Gesichter waren von Kapuzen verhüllt. Er bekam ein Knie in den Unterleib, krümmte sich und ging zu Boden. Ein Fuß traf ihn voll zwischen den Hinterbacken, und sein Magen rebellierte. Die übrige Menge bekam davon nichts mit. Sie grölte vor Vergnügen über die nächste Posse des Zeituhrdrachens. Eine mitfühlende Frau im Witwentuch packte Frex am Arm und zog ihn fort - er war zu besudelt, zu schmerzverkrümmt, um sich aufzurichten und zu schauen, wer es war. »Ich verstecke dich im Kartoffelkeller, jawohl, unter einem Sack«, redete ihm die Frau gut zu, »denn heute Abend werden sie mit Heugabeln auf dich Jagd machen, so wie dieses Monstrum sie aufhetzt. Sie werden dich bei dir zu Hause suchen, aber nicht bei mir im Keller.« »Melena«, krächzte er. »Sie werden sie finden ...« »Für sie wird gesorgt«, sagte seine Wohltäterin. »Das werden wir Frauen wohl noch zuwege bringen.« Während Melena im Pfarrhaus darum rang, bei Bewusstsein zu bleiben, strichen ständig zwei Hebammen an ihrem getrübten Blick vorbei, eine Fischfrau die eine, eine zittrige Alte die andere. Abwechselnd fühlten sie ihr die Stirn, lugten ihr zwischen die Beine und warfen verstohlene Blicke auf die paar schönen Schmuckstücke und Wertgegenstände, die Melena aus Kolkengrund hatte mitbringen können. »Jetzt kau schön brav diese Paste aus Spitzlappblättern, Gnädigste, dann bist du im Nu bewusstlos«, sagte die Fischfrau. »Du entspannst dich, der kleine Liebling kommt herausgeflutscht, und am Morgen ist alles in bester Ordnung. Ich dachte, du würdest nach Rosenwasser und Feentau duften, aber du stinkst wie wir anderen auch. Nun kau schon, Melena, kau!« Als es klopfte, blickte die Alte schuldbewusst von der Truhe auf, die sie kniend durchstöberte. Sie ließ den Deckel zuknallen und nahm Gebetshaltung an, die Augen geschlossen. »Herein!«, rief sie. Ein junges Mädchen mit zarter Haut und gerötetem Gesicht trat ein. »Hab ich mir doch gedacht, dass jemand hier ist«, sagte sie. »Wie geht's ihr?« »Sie ist geschafft und hat's bald geschafft«, antwortete die Fischfrau. »Noch eine Stunde, würde ich schätzen.« »Ich soll euch warnen. Die Männer sind betrunken und machen die Gegend unsicher. Sie sind von diesem Drachen der magischen Uhr aufgehetzt worden, und jetzt suchen sie Frex und wollen ihn umbringen. Die Uhr hat es befohlen. Sie werden wahrscheinlich bald angetorkelt kommen. Wir sollten die Frau lieber in Sicherheit bringen - lässt sie sich wegschaffen?« Nein, ich lasse mich nicht wegschaffen, dachte Melena, und wenn die Bauern Frex finden, dann sollen sie ihn in meinem Namen gnadenlos abmurksen, denn ich habe noch nie so furchtbare Schmerzen gehabt, dass ich das Blut hinter den eigenen Augen sehen konnte. Tötet ihn dafür, dass er mir das angetan hat. Bei diesem Gedanken lächelte sie und wurde ohnmächtig. »Wir lassen sie lieber hier liegen und machen uns davon«, sagte die Jungfer. »Die Uhr will, dass sie ebenfalls stirbt, und der kleine Drache, den sie zur Welt bringt, auch. Ich will nicht erwischt werden.« »Das ist gegen unsere Ehre«, sagte die Fischfrau. »Wir können das feine Dämchen nicht mitten in der Geburt im Stich lassen. Ist mir gleich, was irgendeine Uhr dazu sagt.« Die Alte, die den Kopf wieder in der Truhe hatte, sagte: »Jemand Interesse an echter Spitze aus Gillikin?« »Auf dem unteren Feld steht ein Heuwagen, aber wir müssen sofort handeln«, sagte die Fischfrau. »Kommt, helft mir ihn holen! Und du, alte Mutter Gierhals, nimm die Nase aus der Wäsche und kühle lieber diese hübsche rosige Stirn. Gut, auf geht's!« Wenige Minuten später zogen die Alte, die Mittelalte und die Junge den Heuwagen auf einem selten benutzten Weg durch das Gestrüpp und Farndickicht des Herbstwalds. Der Wind war stärker geworden. Er pfiff über die baumlosen Höhen der Tuchberge. Melena, halb ohnmächtig in Decken verpackt, wälzte sich und stöhnte vor Schmerzen. Sie hörten eine betrunkene Meute mit Heugabeln und Fackeln vorbeiziehen, und starr vor Angst blieben die Frauen mucksmäuschenstill stehen und lauschten den genuschelten Verwünschungen. Dann setzten sie ihren Weg mit größerer Eile fort, bis sie an ein nebeliges Waldstück kamen - den Friedhof für die ungeweihten Toten. Auf einmal erblickten sie die verschwommenen Umrisse der Uhr. Der Zwerg, der nicht dumm war, hatte sie zur Sicherheit dort abgestellt, wohl in der Annahme, dass dieser entlegene Winkel der letzte Ort der Welt war, den die schreckhaften Dörfler in dieser Nacht aufsuchen würden. »Der Zwerg und seine Jüngelchen haben auch in der Schenke getrunken«, sagte die Jungfer atemlos. »Hier wird uns niemand in die Quere kommen.« Die Alte sagte: »Du hast also durchs Wirtshausfenster die Männer beobachtet, du Schlampe?« Sie stieß die Klappe an der Rückseite der Uhr auf. Dahinter war Platz zum Unterkriechen. Pendel hingen unheildrohend im Dunkeln. Große Zahnräder sahen aus, als wollten sie jeden unbefugten Eindringling in Wurstscheiben zerschneiden. »Los, zieht sie rein!«, sagte die Alte. Die nächtlichen Fackeln und Nebelschwaden wichen bei Tagesanbruch breiten Gewitterwolkenwänden und zuckenden Blitzen. Zwischendurch rissen kurz blaue Flecken am Himmel auf, obwohl es zeitweise so schwere Tropfen regnete, dass sie eher aus Schlamm als aus Wasser zu sein schienen. Schließlich war das Neugeborene da, und die Hebammen krabbelten damit auf allen vieren hinten zum Uhrwagen hinaus. Sie schirmten das Kind vor der überlaufenden Dachrinne ab. »Seht mal, ein Regenbogen!«, sagte die Älteste mit einer kurzen Kopfbewegung. Ein fahler bunter Lichtstreif hing am Firmament. Was sie erblickten, als sie die Glückshaube und das Blut von der Haut abrieben, war es nur das täuschende Licht? Nach dem Gewitter nämlich schien das Gras eine viel intensivere Farbe zu haben, und die Rosen leuchteten mit wahnsinniger Pracht auf ihren Stengeln. Und doch waren das Licht und die Atmosphäre nicht verantwortlich für das, was die Hebammen vor sich sahen. Unter der Käseschmiere glänzte das Kleine in einem blassen, doch schockierend smaragdgrünen Ton. Kein Schrei ertönte, kein empörtes Neugeborenenplärren. Das Kind machte den Mund auf, atmete und bewahrte ansonsten Stillschweigen. »Na heul schon, du Teufel!«, sagte die Alte. »Das ist deine erste Schuldigkeit.« Das Kleine kam seiner Verpflichtung nicht nach. »Schon wieder so ein starrsinniger Junge«, seufzte die Fischfrau. »Sollen wir ihn töten?« »Sei nicht so brutal«, sagte die Alte. »Es ist ein Mädchen.« »Ha«, sagte die übernächtigte Jungfer, »schau noch mal genau hin, da ist doch der Pumpenschwengel.« Eine Weile waren sie uneins, obwohl das Kind nackt vor ihnen lag. Erst nach einem zweiten und dritten Abrubbeln war deutlich, dass es tatsächlich weiblichen Geschlechts war. Vielleicht war ja während der Geburt ein Bröckchen organischer Ausfluss hängengeblieben und rasch angedörrt. Im abgetrockneten Zustand wurde die Kleine für wohlgeformt befunden, mit einem länglichen, feinen Kopf, schön gebildeten Unterarmen, einem drallen kleinen Kneifhintern, niedlichen Fingerchen mit winzigen kratzigen Nägeln. Und mit einer unbestreitbar grünen Hautfarbe. Auf Backen und Bauch war ein lachsfarbener Schimmer, ein beiger Anflug um die zu gekniffenen Augenlider, auf der Kopfhaut ein bräunlicher Ton, der den künftigen Haarwuchs ahnen ließ. Hauptsächlich jedoch hatte man den Eindruck von etwas Pflanzlichem. »Seht euch an, was bei unserer Mühe rausgekommen ist«, sagte die Jungfer. »Ein kleiner grüner Klacks Butter. Wollen wir es nicht lieber töten? Ihr wisst doch, was die Leute sagen werden.« »Ich finde es eklig«, sagte die Fischfrau und sah prüfend nach einem Schwanzansatz, zählte Finger und Zehen. »Es riecht nach Dung.« »Das ist Dung, was du da riechst, du dumme Gans. Du hockst mitten in einem Kuhfladen.« »Es ist krank, es ist schwach, daher die Farbe. Schmeißen wir es in den Tümpel, ersäufen wir das Balg. Sie wird nie was erfahren. Sie wird noch stundenlang in ihrer vornehmen Ohnmacht liegen.« Sie gickelten. Sie wiegten das Kleine in den Armen, prüften eine nach der anderen Gewicht und Gleichgewichtssinn. Es zu töten war die menschlichste Lösung. Die Frage war, wie. Da gähnte das Kind, und die Fischfrau schob ihm automatisch einen Finger zum Nuckeln in den Mund, und das Kind biss den Finger am zweiten Knöchel ab. Es erstickte beinahe am ausströmenden Blut. Das Glied fiel ihm aus dem Mund wie eine Garnrolle. Schlagartig kam Leben in die Frauen. Die Fischfrau machte Miene, die Kleine zu erwürgen, und die Alte und die Junge gingen sofort schützend dazwischen. Der Finger wurde aus dem Schlamm gezogen und in eine Schürzentasche gesteckt, um ihn der Hand, die ihn verloren hatte, möglichst wieder anzunähen. »Es ist ein Pimmel«, kreischte die Jungfer und warf sich lachend auf den Boden. »Sie hat gerade gemerkt, dass sie keinen hat. Das arme Jüngelchen, das als Erstes versucht, mit ihr seinen Spaß zu haben, soll nur aufpassen! Die knipst ihm zum Andenken den Schniedel ab!« Die Hebammen krochen in die Uhr zurück und legten das Kind auf der Mutterbrust ab; an Gnadentod dachten sie nicht mehr, sie wollten nicht noch mal von dem Säugling gebissen werden. »Vielleicht hackt sie als nächstes die Zitze ab, da wird Ihre Hochwohlgeborene Rammdösigkeit fix wieder zu sich kommen«, kicherte die Alte. »Aber was für ein Kind, das schon vor dem ersten Tropfen Muttermilch Blut leckt!« Sie stellten ein Töpfchen mit Wasser in die Nähe, und im Schutze des nächsten Regengusses patschten sie von dannen, auf der Suche nach ihren Söhnen und Männern und Brüdern, um sie zu schelten und zu schlagen, wenn sie verfügbar waren, oder zu beerdigen, wenn nicht. Im Halbdunkel starrte der Säugling auf die regelmäßigen geölten Zähne der Zeituhr droben. III DIE SMARAGDSTADT Und so pirschte er ihr abermals nach. Die Liebe macht uns alle zu Jägern. Sie hatte sich in ein langes schwarzes Kleid gehüllt wie eine Ordensfrau und ihre Haare unter einem breitkrempigen Hut mit einer hohen, kegelförmigen Krone versteckt. Ein Schal, dunkelrot mit Gold, war um den Hals geschlungen und über den Mund gezogen, obwohl es mehr gebraucht hätte als einen Schal, um ihre entzückende spitze Nase zu tarnen. Sie trug elegante, eng sitzende Handschuhe, ein modischeres Accessoire, als man sonst an ihr sah, doch er fürchtete, dass sie nur dem gewandteren Gebrauch der Hände dienten. Ihre Füße steckten in großen Stiefeln mit Stahlkappen, wie die Bergleute im Glikkus sie trugen. Wenn man nicht wusste, dass sie grün war, hätte man es an diesem dunklen Nachmittag, in diesem heftigen Schneegestöber schwer erkannt. Sie sah sich nicht um; vielleicht kümmerte es sie nicht, ob sie verfolgt wurde. Ihre Route führte sie über einige der großen Plätze der Stadt. Sie verschwand kurz in der St.-Glinda-Kirche neben dem Nonnenkloster, in der er sie das erste Mal gesehen hatte. Vielleicht bekam sie noch allerletzte Instruktionen, aber sie machte keinen Versuch, ihn (oder sonst jemanden) abzuschütteln. Nach ein, zwei Minuten kam sie wieder heraus. Oder konnte es sein, dass sie um Leitung und Stärke gebetet hatte? Sie überquerte die Gerichtshofbrücke, spazierte am Ozma-Ufer entlang und ging dann diagonal durch den verwilderten Königlichen Rosengarten. Der Schnee machte ihr zu schaffen; immer wieder zog sie ihr Cape fester um sich. Ihre Silhouette mit den dünnen, dunklen Beinen in diesen aberwitzig großen Stiefeln stach von den schneeweißen Flächen des Hirschparks ab (mittlerweile natürlich von Hirschen wie Hirschen verlassen). Mit eingezogenem Kopf marschierte sie an den Zenotaphen und Obelisken und Gedenktafeln für die gefallenen Helden dieses oder jenes Feldzugs vorbei. Die Jahrzehnte, dachte Fiyero, von Liebe zu ihr erfüllt oder wenigstens so besorgt um sie, dass er das Gefühl mit Liebe verwechseln konnte, die Jahrzehnte schauten herab und bemerkten die Vorbeigehende gar nicht. Auf ihren festen Sockeln starrten sie sich gegenseitig an und sahen nicht die Revolution, die auf dem Weg zu ihrer Bestimmung zwischen ihnen hindurchschritt. Aber der Zauberer konnte nicht ihr Ziel sein. Sie musste die Wahrheit gesagt haben, als sie behauptet hatte, sie sei zu unerprobt und zu auffällig, um für ein Attentat auf den Zauberer in Frage zu kommen. Sie musste Teil einer Ablenkungstaktik sein oder eines Plans zur Ausschaltung eines möglichen Nachfolgers oder eines hochrangigen Verbündeten. Denn heute Abend wollte der Zauberer in der Volksakademie für Kunst und Mechanik nahe dem Palast die antiroyalistische, revisionistische Ausstellung des Kampfes und des Heldenmuts eröffnen. Doch am Anfang der Shizer Straße bog Elphaba ab, weg vom Palastbezirk, und ging schnurstracks durch den kleinen, schicken Stadtteil Goldhafen. Die Häuser der Stinkreichen wurden von Söldnern bewacht, und sie trappte auf dem Pflaster an ihnen und an den Stallburschen vorbei, die mit Besen den Schnee vom Bürgersteig fegten. Sie sah nicht hoch, sie sah nicht auf den Weg, sie sah sich nicht um. Fiyero vermutete, dass er mit seinem Abendmantel im Schneetreiben mehr auffiel als sie. Am Rande von Goldhafen stand ein kleines Blausteinjuwel von einem Schauspielhaus, das Feenzaubertheater. Auf dem schlichten, aber eleganten Platz davor hingen massenhaft Lichterketten und grüngoldene Glitzergirlanden von einer Straßenlaterne zur anderen. Irgendein Feiertagsoratorium stand auf dem Programm - er konnte vorn auf der Anschlagtafel nur AUSVERKAUFT entziffern -, und die Türen waren noch nicht geöffnet. Die Menge versammelte sich, Straßenhändler verkauften heiße Schokolade in hohen Keramikbechern, und eine Schar kecker junger Burschen amüsierte sich und provozierte einige ältere Herrschaften, indem sie die Parodie eines alten unionistischen Festchorals sang. Der Schnee legte sich auf alles, auf die Lichter, das Theater, die Menschen. Er fiel in die heiße Schokolade, er wurde auf dem Pflaster zu Matsch und Eis zertreten. Wie von fremder Hand gesteuert erklomm Fiyero die Stufen einer nahen Privatbibliothek, um Elphaba im Auge zu behalten, die in die Menge eintauchte. Sollte im Theater ein Mord geschehen? Ein Brandanschlag, bei dem die harmlosen Genießer wie Kastanien geröstet wurden? Gab es ein einzelnes Ziel, ein ganz bestimmtes Opfer, oder sollte es ein allgemeines Gemetzel werden, je schlimmer, umso besser? Er wusste nicht, ob er da war, um zu verhindern, was sie tun wollte, oder um vor der Katastrophe zu retten, wen er nur konnte, oder um unschuldige Verletzte zu pflegen, oder vielleicht sogar nur, um Augenzeuge zu werden und so mehr über sie zu erfahren. Und um sie zu lieben oder nicht zu lieben, aber auf jeden Fall Klarheit zu haben. Sie schlängelte sich durch die Menge, als versuchte sie jemanden zu finden. Anscheinend merkte sie nicht, dass er da war, so erpicht war sie darauf, das richtige Opfer zu finden. Fühlte sie denn nicht, dass ihr Geliebter mit ihr auf demselben freien Platz stand, über dem der Wind die Schneevorhänge auf- und zuzog? Eine Phalanx der Sturmtruppe kam aus einer Gasse zwischen dem Theater und einer Schule direkt daneben. Die Soldaten bezogen vor der Zeile der Glastüren am Eingang Stellung. Elphaba stieg die Stufen eines altertümlichen steinernen Wollmarktstandes hinauf. Fiyero sah, dass sie etwas unter dem Mantel hatte. Sprengstoff? Irgendein magisches Utensil? Hatte sie Mitverschworene auf dem Platz? Begaben sie sich an ihre jeweiligen Posten? Die Menge drängte sich dichter zusammen, je näher die Aufführung des Oratoriums rückte. Hinter den Glastüren war man eifrig damit beschäftigt, Pfosten aufzustellen und Samtseile dazwischen zu spannen, um für ein geordnetes Betreten des Saales zu sorgen. Niemand schob und drängelte in der Öffentlichkeit so rücksichtslos wie die Reichen, wusste Fiyero. Auf der anderen Seite des Platzes kam eine Kutsche um die Ecke eines Gebäudes. Sie konnte nicht direkt vor dem Theater halten, da die Menge dort zu dicht stand, doch sie fuhr so weit, wie es ging. Da alle die Ankunft einer hochgestellten Persönlichkeit spürten, wurde es etwas stiller. Konnte dies ein unangekündigter Besuch des öffentlichkeitsscheuen Zauberers sein? Ein Kutscher mit einer Teckpelzmütze riss die Tür auf und streckte die Hand hinein, um dem Passagier beim Aussteigen behilflich zu sein. Fiyero hielt den Atem an; Elphaba versteinerte. Dies war die Zielperson. In einem Schwall von schwarzer Seide und silbernen Pailletten rauschte eine massige Frau auf die verschneite Straße. Ihr Gebaren war herrisch und hoheitsvoll: Es war Madame Akaber, niemand anders, selbst Fiyero erkannte sie, obwohl er ihr nur einmal begegnet war. Er sah es Elphaba an, dass dies die Person war, die sie töten sollte. Im Nu war alles sonnenklar. Wenn sie erwischt und gefangengenommen und verhört wurde, konnte ihr Motiv nicht einleuchtender sein: nur eine verrückte Studentin aus Madame Akabers Grattler-Kolleg, die einen unversöhnlichen Groll gegen ihre alte Rektorin hegte. Es war perfekt. Aber konnte es überhaupt sein, dass Madame Akaber mit dem Zauberer unter einer Decke steckte? Oder war das nur ein Ablenkungsmanöver, mit dem die Sicherheitskräfte vom eigentlichen Ziel abgebracht werden sollten? Elphabas Cape zuckte; ihre Hand ging darunter auf und ab, als ob sie eine Waffe schussfertig machte. Madame Akaber brummte unterdessen einen Gruß an die versammelten Leute, die zwar nicht unbedingt wussten, wer sie war, aber dennoch das Spektakel genossen, wenn auch weniger ihren Anblick. Am Arm eines Tiktakdieners tat die Rektorin des Grattler-Kollegs vier Schritte auf das Theater zu, und Elphaba beugte sich ein wenig vor. Ihr Kinn ragte jetzt spitz unter dem Schal heraus, ihre Nase schien Ziel zu nehmen, als wollte sie Madame Akaber bloß mit der natürlichen Schärfe ihrer Gesichtszüge in Stücke schneiden. Ihre Hände hantierten weiter unter dem Cape herum. Doch da wurden die Eingangstüren des Gebäudes aufgestoßen, an dem Madame Akaber gerade vorbeiging - nicht des Theaters, sondern der benachbarten Mädchenschule. Herausgeschwärmt kam eine kleine Horde von Schulmädchen, die sichtlich der Oberschicht entstammten. Was machten sie am Lurlinaabend in der Schule? Fiyero erhaschte Elphabas Blick maßloser Überraschung. Die Mädchen waren sechs oder sieben, wie Sahne in Pelzmuffs und Pelzschals und Stiefel mit Pelzsaum gegossen. Sie lachten und sangen laut und rauh wie die erwachsenen Elitedamen, die sie einmal werden wollten, und in ihrer Mitte stellte ein Schauspieler die Fee Prinella dar. Es war ein Mann, wie es der Brauch verlangte, ein Mann mit einer albernen clownsartigen Bemalung, falschem wippenden Busen, Perücke, extrem ausladendem Rock, Strohhut und einem großen Korb, der von allerlei Krimskrams überfloss. »Olé, Hautevolee«, flötete er Madame Akaber an. »Die Fee Prinella kann auch dich mit einem Geschenk beglücken.« Einen Moment lang dachte Fiyero, der Mann im Frauenkostüm werde ein Messer ziehen und Madame Akaber vor den Augen der Kinder erstechen. Doch nein, die Aktion war gut organisiert, aber doch nicht so gut. Dies war ein echter Zufall, eine Störung. Die Schulfeier an dem Abend war nicht vorherzusehen gewesen, genauso wenig wie der Schwarm kreischender Mädchen, die gierig an einem als Frau verkleideten und im Falsett sprechenden Schauspieler zerrten. Fiyero blickte wieder zu Elphaba hinüber. Die Fassungslosigkeit stand ihr im Gesicht geschrieben. Was immer sie tun sollte, die Kinder waren im Weg. Als wilde kleine Horde flitzten sie um die Rektorin herum, bestürmten Prinella, sprangen an ihm/ihr in die Höhe und grapschten nach den Geschenken. Die Kinder waren das zufällige Umfeld: fröhlich lärmende, unschuldige Töchter von Wirtschaftsbossen, Despoten ... Er sah, wie es in Elphaba arbeitete, sah, wie sie mit der Frage rang, ob sie es trotzdem tun oder ob sie es lassen sollte - was immer es sein mochte. Madame Akaber wälzte sich weiter voran wie ein Festwagen in einem Trauertagsumzug, und die Türen des Theaters öffneten sich für sie. Mit Grandezza trat sie in die Sicherheit des Foyers. Draußen tanzten und sangen die Kinder im Schnee, und die Menge wogte hierhin und dorthin. Elphaba sank niedergeschmettert gegen eine Säule und zitterte vor Selbsthass so heftig, dass Fiyero es aus fünfzig Metern Entfernung erkennen konnte. Er drängte sich zu ihr hin, unbekümmert um die Konsequenzen, doch als er die Stufen erreichte, war sie ihm durch die Lappen gegangen. Das Publikum schob sich langsam ins Theater. Die Kinder schrien auf der Straße ihr Lied, ganz trunken von Gier und Glück. Die Kutsche, die Madame Akaber gebracht hatte, konnte jetzt am Theater vorfahren und dort warten, bis sie endlich wieder herauskam. Ratlos blieb Fiyero noch ein Weilchen stehen für den Fall, dass es einen Ausweichplan gab, dass Elphaba etwas in der Hinterhand hatte, dass das Theater in die Luft flog. Dann beschlich ihn die Sorge, Elphaba könnte in den wenigen Minuten, seit er sie aus den Augen verloren hatte, von der Sturmtruppe gefasst worden sein. Konnte es sein, dass die Soldaten sie so blitzschnell abgeführt hatten? Was sollte er tun, wenn sie plötzlich auch zu den Verschwundenen gehörte? Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Rückweg. Zum Glück fand er eine wartende Droschke, und er ließ sich direkt in die Straße mit den Lagerhäusern neben der Kaserne im neunten Bezirk bringen. [...]

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