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Arbeit und Geschlecht im Wandel

Impulse aus Lateinamerika

Erschienen am 09.10.2019, 1. Auflage 2019
34,95 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593510224
Sprache: Deutsch
Umfang: 243 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 21.5 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Bereits in den 1970er-Jahren entstanden in Lateinamerika Pionierstudien zur Verschränkung von Klasse und Geschlecht. Dieses Buch verbindet eine historische Rückschau mit gegenwärtigen Entwicklungen der dortigen Arbeits- und Geschlechterverhältnisse. Es trägt Erfahrungswissen aus dem 'globalen Süden' in die Debatten des 'globalen Nordens' hinein, um gängigen eurozentristischen Perspektiven entgegenzuwirken.

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Autorenportrait

Johanna Neuhauser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Johanna Sittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Nico Weinmann ist Lehrer für Politik und Deutsch mit Lehramt für Gymnasien.

Leseprobe

Spätestens seit den 1980er Jahren befinden sich die Arbeitswelten des Globalen Nordens im Umbruch. Die Debatten um den Strukturwandel firmieren seitdem zwar unter den verschiedenen Topoi der 'Erosion des Normarbeitsverhältnisses' (unter anderem Offe 1984), der Zunahme 'atypischer Beschäftigung' oder der 'Prekarisierung' (Castel/Dörre 2009; Dörre u.a. 2013; Standing 2011). Gleichwohl rekurrieren sie auf mehr oder weniger dasselbe Phänomen: In den (ehemaligen) industriellen Kernregionen des Globalen Nordens hat unbefristete, betriebliche Vollzeitbeschäftigung als Normgröße für Arbeits-, Tarif- und Sozialpolitik an Bedeutung eingebüßt, während wohlfahrtsstaatliche Regulierung innerhalb der Arbeitswelt zugunsten von ökonomischer Flexibilisierung insgesamt an Prägekraft verloren hat. Auch die tonangebenden Zukunftsprognosen zur Arbeitswelt aktualisieren diese Diagnose. Sie gehen unter anderem davon aus, dass in einer zunehmend digitalisierten und automatisierten Arbeitsgesellschaft das Arbeitskräftepotential die Nachfrage bald schon deutlich überschreiten und im Zuge dessen konventionelle Lohnarbeit weiter ihre Relevanz einbüßen wird. Es wird prognostiziert, dass die Digitalisierung zur weiteren Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse beitragen und dass unbezahlte, kreative sowie informelle Arbeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird (Brynjolfsson/McAfee 2014; Huws 2014; zu Informalisierung der Arbeit im flexiblen Kapitalismus: u.a. Komlosy 2014; Burchardt u.a. 2013). Zentrales Charakteristikum des Strukturwandels der Arbeitswelt ist, dass Frauen dabei auf besondere Weise benachteiligt sind. In den letzten Jahrzehnten vollzog sich ein Anstieg der weiblichen Erwerbstätigkeit nicht unwesentlich über die Ausweitung der Teilzeitarbeit oder die Integration von Frauen in expandierende Segmente der prekären Beschäftigung. Diese Entwicklungen sind unmittelbar verkoppelt mit einer Reorganisation dessen, was wir im Fortgang des Buches - in Anknüpfung an materialistisch-feministische Perspektiven - als Arbeit in der Sphäre der sozialen Reproduktion verstehen (Laslett/Brenner 1989). Gemeint sind manuelle, mentale oder emotionale Arbeiten, wie Haushaltsarbeit, die Erziehung von Kindern, die Pflege von Bedürftigen, die nicht nur notwendig sind, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, sondern um darüber hinaus in umfassender Weise das Leben der gegenwärtigen sowie der nächsten Generation zu erhalten (ebd.: 383). Die überwiegend von Frauen unbezahlt im Haushalt verrichteten Reproduktionsarbeiten stehen durch die Zunahme prekärer Arbeit in der Erwerbssphäre unter einem besonderen Druck: Prekarität betrifft nicht nur Erwerbsbiographien und Arbeitsalltage, sie wirkt 'überall' (Bourdieu 1998), auch innerhalb der Lebensbereiche des Privathaushalts. Während in der deutschen Nachkriegszeit bis in die jüngere Vergangenheit Reproduktion über ein Zusammenspiel aus sogenanntem Normalarbeitsverhältnis, sozialstaatlicher Absicherung und traditioneller Arbeitsteilung in der Versorger-Ehe kollektiv reguliert und organisiert war, wird sie gegenwärtig zu einem individualisierten Projekt (Jürgens 2017: 274). In immer mehr Haushalten etablierte sich das Zweiverdiener-Modell bei nur teilweise modernisierter Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, erhöhter Arbeitsbelastung und fehlendem öffentlichen Betreuungsangeboten für Kinder und die wachsende Anzahl Pflegebedürftiger (ebd.). Aufgrund des Abbaus öffentlicher Daseinsfürsorge wird die soziale Reproduktion außerdem zunehmend unter marktwirtschaftlichen Bedingungen reorganisiert. In diesem Segment entstand ein feminisierter und zugleich abgewerteter Care-Arbeitssektor, in dem zu einem hohen Anteil Migrant_innen beschäftigt sind (Lutz 2007). In ihrer Zusammenschau werden diese Dynamiken gegenwärtig als verschärfte 'Krise sozialer Reproduktion' verstanden (unter anderem Winker 2013; Becker-Schmidt 2011; Klinger 2013; Haubner 2017). Vor allem mit Blick auf die miteinander verschränkten Umbrüche in Erwerbs- und Reproduktionssphäre wird daher deutlich, dass dem Strukturwandel der Arbeitswelt die Reproduktion von Geschlechterungleichheiten allgegenwärtig inhärent ist. Mehr noch gehen wir davon aus, dass ungleiche Arbeits- und Geschlechterverhältnisse sich wechselseitig bedingen und daher nicht getrennt voneinander untersucht werden können. Mit dem vorliegenden Sammelband greifen wir aber nicht nur den gesellschaftstheoretisch erkenntnisversprechenden Problemzusammenhang von Arbeit und Geschlecht auf, sondern plädieren darüber hinaus für einen Perspektivenwechsel auf dieses Wechselverhältnis von Nord nach Süd. Die sozialen Phänomene der hier nur angerissenen Strukturumbrüche werden in hiesigen Debatten meist als neuartig verstanden. Dabei wird weitgehend außer Acht gelassen, dass es sich bei heterogenen Arbeitsmärkten mit einem hohen Anteil marginalisierter, prekärer oder informeller Beschäftigung oder auch bei dem Arm-trotz-Arbeit-Phänomen um Strukturmerkmale handelt, die in Arbeitswelten des Globalen Südens seit langem den Normalfall darstellen. Diesem Umstand wird in den Sozialwissenschaften hierzulande kaum Beachtung geschenkt. Sicherlich ist in Teilen die arbeitssoziologische Forschung zuletzt internationaler geworden. So findet beispielsweise das Konzept der Prekarität, das vordergründig im Globalen Norden entstanden ist, zunehmend Anwendung anhand von Gegenstandsbereichen in Südgesellschaften (Sproll/Wehr 2014; Julian 2017; Webster u.a. 2008). Zudem wurden im Zuge der jüngeren Debatten mit Blick auf die Strukturumbrüche der hiesigen Arbeitsgesellschaften immer wieder Assoziationen zu den traditionellen Entwicklungsregionen des Globalen Südens laut. Diese vereinzelten Wortmeldungen identifizierten durchaus zunehmende Strukturähnlichkeiten zwischen den Arbeitsgesellschaften des Globalen Nordens und Südens. Ulrich Beck (1999) machte etwa prominent zum Ende der 1990er Jahre eine 'Brasilianisierung' und damit 'den Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft' (ebd.: 8) aus. Damals las sich die 'Brasilianisierung' des Nordens für viele auch wie eine hoffnungsfrohe Prophezeiung: In Becks Entwurf der Bürgergesellschaft bestand die Möglichkeit, dass in den wohlhabenden Ländern des Nordens anders als im Globalen Süden ein 'Ende der Erwerbsarbeit' (ebd.) dazu führen könnte, dass künftig fremdbestimmte Arbeitszeit in vielfältige und selbstbestimmte Freizeit transformiert würde. Dem stand allerdings ein zweites, von Beck-Leser_innen weniger oft rezitiertes Szenario gegenüber: 'Länder der sogenannten Vormoderne mit ihrem hohen Anteil an informeller, multiaktiver Arbeit könnten den sogenannten spätmodernen Ländern des Kernwestens das Spiegelbild [ihrer Entwicklung] vorhalten.' (ebd.) Solche Diagnosen gemeinsamer struktureller Schnittmengen oder zumindest strukturähnlicher Homologien zwischen den Arbeitswelten des Nordens und des Südens leiden allerdings seit jeher unter einer stark assoziativen Schlagseite. Meistens wird darauf verzichtet, die Befunde und Erfahrungen zwischen dem Süden und dem Norden analytisch, methodisch und empirisch abzugleichen und konzeptionell neu aufzubereiten, um die assoziative Vermutung der Strukturähnlichkeit auf ein systematisches Fundament zu stellen. Der vorliegende Sammelband geht daher nicht von einer Untersuchung der Arbeitsgesellschaften des Globalen Nordens aus, sondern zielt umgekehrt darauf ab, aus den Befunden lateinamerikanischer Wissenschaftlerinnen zum Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen auf dem Subkontinent auch Erkenntnisse für die hiesigen Debatten zu generieren. Dreieinigkeit arbeitssoziologischer Engführungen Um einen Beitrag zur Ergründung des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaften im Süd-Nord-Dialog zu leisten, gehen wir besonders auf Ansätze ein, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion oder die spezifische Integration von Frauen in den Ar...

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