Beschreibung
Norbert Häring: Wir bezahlen mit der Freiheit In unserer Bezahlwelt tobt ein Krieg gegen das Bargeld. Es geht um kommerzielle Interessen und um die technologiegetriebenen Geschäftsmodelle von Mastercard, Microsoft, Apple und Co. Und es geht um die Freiheit des Individuums. Der Wirtschaftsexperte Norbert Häring belegt, wie eine Allianz aus großen Technologie- und Finanzkonzernen, reichen Stiftungen, Regierungen und Organisationen an einem umfassenden System der digitalen finanziellen Überwachung und Kontrolle baut: Wir sind auf dem Weg in ein (vertragsungebundenes) Pay-as-you-go-System, das mittels Gesichtserkennung und Fingerabdrücken aktives Bezahlen überflüssig macht und einer globalen Weltwährung den Weg bahnt. Wer das Buch von Häring liest, weiß, warum das keine Verheißung ist.
Autorenportrait
Dr. Norbert Häring ist Wirtschaftsjournalist und Autor populärer Wirtschaftsbücher. Er schreibt für das Handelsblatt und betreibt den Blog "Geld und mehr". 2014 wurde er mit dem Preis der Keynes-Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Die von ihm 2011 mitbegründete internationale Ökonomenvereinigung World Economics Association hat über 12 000 Mitglieder. 2016 veröffentlichte er das Buch "Die Abschaffung des Bargelds und die Folgen".
Leseprobe
Einführung und Überblick Die Zukunft des Bezahlens ist 2018 in der Gegenwart angekommen. In Seattle, an der Westküste der USA, eröffnete das erste Amazon-Go-Ladengeschäft für die Allgemeinheit. Wer dort einkauft, braucht dank "modernster Einkaufstechnologie" nicht mehr Schlange zu stehen. Kunden müssen nur einmal die zugehörige App kostenlos auf ihr Smartphone herunterladen. Danach können sie sich nach Belieben im Laden bedienen, ihre Auswahl an Produkten aus dem Regal nehmen, in ihre Tasche packen und wieder gehen. Alles Weitere macht die Technik. Wenn ein Kunde zum Beispiel Marmelade in seine Tasche gelegt hat und dann feststellt, dass er doch lieber Honig hätte, legt er die Marmelade einfach wieder zurück ins Regal. Die Amazon-Überwachungstechnik registriert das und streicht die Marmelade wieder von der Rechnung. Kurz nachdem der Kunde den Laden verlassen hat, ohne von irgendwelchen Kassierern oder Ladendetektiven behelligt worden zu sein, bekommt er eine Rechnung auf sein Smartphone und das Geld wird vom Amazon-Konto abgebucht. Bequemer geht es kaum. Das aktive Bezahlen ist in dieser Konsumutopie, die gerade Realität wird, abgeschafft. Das Abkassieren geht automatisch ohne unsere Beteiligung. Wir müssen nicht einmal mehr eine Karte zücken oder eine Unterschrift leisten. Der Verkäufer und derjenige, der unser Geld verwaltet, werden eins. Wohin die Reise gehen soll, ist klar - und sie geht weit über die Amazon-Welt hinaus: Alle Bequemlichkeit ist auf unserer Seite, alle Macht auf der anderen. In China wird gerade eine andere Utopie Realität. Geld als Haupttriebfeder und Belohnung des wirtschaftlichen Handelns wird abgelöst von penibel gemessener Tugendhaftigkeit. Die Regierung führt ein umfassendes System zur Bewertung ihrer Bürger ein. Wer von den Kameras mit Gesichtserkennung dabei ertappt wird, dass er bei Rot über die Ampel geht, bekommt Punkte vom Sozialpunktekonto abgezogen. Wer Kunden besonders freundlich bedient, bekommt welche dazu. Wer zu wenige Sozialpunkte auf dem Konto hat, kann sich kein Ticket für einen Flug oder den Schnellzug mehr kaufen und auch keine schöne Wohnung mehr mieten oder gar erwerben. Bezahlt wird mit den Allround-Apps WeChat oder Alipay, die man sich wie eine Kombination von Facebook, Google, WhatsApp und Amazon vorstellen kann. Da WeChat mit Gesichtserkennung und weiteren biometrischen Merkmalen operiert und eng mit der Regierung zusammenarbeitet, fungiert die App inzwischen sogar als amtlicher Identitätsnachweis. WeChat registriert und speichert alles, was die Teilnehmer mit ihrem Geld machen, und kooperiert mit den Sozialpunktebehörden. Wer den halben Tag Computerspiele spielt oder eine Rechnung nicht bezahlt, hat schlechte Karten. So schön die Vorstellung ist, dass tugendhaftes Verhalten mehr gewürdigt wird als der schnöde Mammon: Wenn eine kommunistische Einheitspartei verbindlich für alle vorschreibt, was gutes und was schlechtes Verhalten ist, und das auch noch überwachen und sanktionieren kann, dann ist das eine totalitäre Gesellschaft ohne individuelle Freiheit. Ganz anders die schöne neue Bezahlwelt der Amazon-Go-Gesellschaft - zumindest auf den ersten Blick. Hier schreibt uns keine Obrigkeit vor, wie wir uns verhalten sollen, solange wir uns im Rahmen der Gesetze bewegen. Aber auf den zweiten Blick ist die Schnittmenge mit dem chinesischen Sozialpunktesystem unangenehm groß: Grundlage beider Systeme ist die zuverlässige automatische Identifizierung der Handelnden und die lückenlose automatische Überwachung ihres Handelns. In den chinesischen Städten erfassen Kameras mit Gesichtserkennungssoftware die Passanten auf Schritt und Tritt, genauso wie im Amazon-Go-Laden. Amazon Go ist nur ein besonders fortschrittliches Beispiel der Pay as you go-Bezahlwelt, bei der immer stärker einzelne Handlungen und Nutzungen überwacht und automatisch abgerechnet werden. Bei Amazon Go ist jeder Griff ins Regal eine Kaufhandlung und muss entsprechend überwacht und abgerechnet werden. Das ist ganz klar der Weg, auf den wir als Gesellschaft geschickt werden. Man verkauft uns kein Computerprogramm mehr, über das wir frei verfügen können. Stattdessen sollen wir Programme mieten, die in der Cloud, also auf fremden Computern, laufen. Entsprechend wird alles, was wir damit machen, gespeichert und überwacht. Bei Bedarf kann unser Zugang blockiert werden. Wir kaufen kein Fahrrad mehr, sondern nutzen Leihfahrräder und zahlen automatisch pro Kilometer oder Stunde. Statt Steuern für Autobahnen zu zahlen, wird uns für jeden gefahrenen Kilometer Geld abgezogen. Wir besitzen kein Auto mehr, sondern mieten Autos nach Bedarf, mit oder ohne Fahrer, minuten- oder kilometerweise. Die Zahl der Beispiele steigt Monat für Monat. Bald werden wir auf Schritt und Klick kleine Bezahlvorgänge auslösen und es kaum bemerken. Diese Pay as you go-Bezahlwelt braucht und bewirkt die gleiche totale Überwachung, wie sie in China bereits vorangetrieben wird. Sie macht das Individuum, das nichts mehr körperlich besitzt und also auch nicht mehr uneingeschränkt darüber verfügen kann, abhängig von denjenigen, die die Kontrolle über seine Bücher haben. Wenn sie entscheiden, dass jemand nicht mehr genug finanzielle Ansprüche hat oder auf andere Weise das Recht verwirkt hat, sein digitales Geld für die Miete von Dingen einzusetzen, die andere besitzen, wird das Individuum völlig handlungsunfähig. So wie Joe Chip in Philip K. Dicks Zukunftsroman Ubik aus dem Jahr 1966, der seine Wohnung nicht mehr verlassen kann, bis jemand die Tür dafür bezahlt, sich zu öffnen. Die geniale Vorstellungskraft von Dick, der mit der Romanvorlage für den Film Blade Runner berühmt wurde, lässt sich daran ermessen, dass damals das Bezahlen mit Buchgeld noch bei Weitem nicht die Norm war und der Begriff Sharing Economy erst ein halbes Jahrhundert später auf-tauchte. Dank automatischer Gesichtserkennung und ähnlichen Techniken zur Umsetzung des Pay as you go-Systems verschmilzt die reale, analoge Welt mit der digitalen. Jeder unserer Schritte in der realen Welt wird mit digitalen Daten nachgebildet und gespeichert. Diese Daten werden zu umfassenden Persönlichkeitsprofilen zusammengeführt, die sich jeder kaufen kann, der das Geld dafür hat, vom potenziellen Arbeitgeber bis zum potenziellen Kreditgeber oder Vermieter. Anders als in China werden bei uns die Daten und die Beeinflussungsmöglichkeiten (noch) nicht so sehr genutzt, um die Menschen zu gesellschaftlich erwünschtem Verhalten zu erziehen. Es geht vor allem darum, sie zu noch besseren Konsumenten zu machen. Aber es gibt auch schon einige Anwendungen in Richtung des chinesischen Modells. Dass die neuen digitalen Bezahlverfahren so viele Daten produzieren und so viele sensible Daten von uns verlangen, ist die Hauptattraktion für diejenigen, die diese Systeme einführen wollen. Hier ziehen Regierungen, die ihre Bevölkerung überwachen möchten, mit Konzernen an einem Strang, die zuverlässige Daten haben wollen. Das setzt voraus, dass beide uns in der digitalen Welt jederzeit genau identifizieren können. Hier trifft es sich gut, dass man für die Pay as you go-Welt genau diese Totalüberwachung aus vermeintlich harmlosen Gründen braucht. So werden die neuen Bezahlverfahren als einer der Haupttreiber für die Einführung und Ausweitung biometrischer Identifizierung im Alltag genutzt - durch Fingerabdrücke, Gesichtserkennung und künftig vielleicht sogar DNA. Das geschieht absichtsvoll, systematisch und weltweit, wie ich in diesem Buch zeigen werde. Dem einen sin Uhl, dem andern sin Nachtigall Solange jede zweite Transaktion mit Bargeld ausgeführt wird, ist ein umfassendes digitales Abbild davon, was die Bevölkerung tut, kaum möglich. Die hartnäckige Vorliebe der Menschen für Bares hält den Weg in die Pay as you go-Welt auf. Diese Vorliebe ist gut begründet. Denn auch wenn die Gegner des Bargelds viel Mühe darauf verwenden, es ana-chronistisch erscheinen zu lassen, hat es doch viele Vorteile für seine Nutzer. Und: Diese Vorteile werden ...