0

Eine große Freude?

Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949-1989)

Erschienen am 10.07.2018, 1. Auflage 2018
46,00 €
(inkl. MwSt.)

Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593508443
Sprache: Deutsch
Umfang: 319 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 21.5 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Während der Teilung Deutschlands war der Päckchen- und Paketverkehr zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland für viele Menschen die einzige Möglichkeit, mit Verwandten und Bekannten zu kommunizieren und sie mit Geschenken zu bedenken. In beiden Staaten kam ihm daher schnell auch eine politische Funktion zu. Wie gestaltete sich der innerdeutsche Päckchen- und Paketverkehr? Welche Vorstellungen vom Leben "hüben wie drüben" und vom jeweiligen Gegenüber prägten den Versand? Welche Bedeutung hatte dies nach der Wiedervereinigung für die Versender und Empfänger? Konstanze Sochs Studie, eine Beziehungsgeschichte der politischen Kultur im geteilten Deutschland, führt direkt in das Herz der Abgrenzungs- und Annäherungsversuche beider deutscher Staaten.

Autorenportrait

Konstanze Soch, Dr. phil., promovierte an der Universität Magdeburg.

Leseprobe

1. Einführung "War das eine freudige Überraschung, als Ihr liebes Paket hier eintraf mit so vielen schönen Dingen. Wir freuen uns alle drei sehr []!" Mit diesen Worten eröffnete die Dresdenerin Frau Ziegler am 18. November 1980 ihren Brief an Frau Geiß aus Karlsruhe und bedankte sich so für das Weihnachtspaket, mit dem sie bedacht worden war. Neben der Freude war es vermutlich eine Mischung aus Scham und dem Wunsch sich zu rechtfertigen, die sie unmittelbar nach der Danksagung folgende Zeilen schreiben ließ: "So früh habe ich meine Weihnachtsgaben noch gar nicht parat, bei uns ist ja alles mit viel Lauferei und langem Warten verbunden." Als Familie Ziegler kurz vor Weihnachten ein zweites Weihnachtspaket erreicht, ohne dass sie bisher eine Reaktion auf das von ihnen versandte Päckchen erhalten hätten, beschreibt Frau Ziegler dies in einem zweiten Brief wie folgt: "Nun haben Sie sicherlich gedacht, ich schicke Ihnen einen Dresdener Christstollen, aber da hätte ich ja erst anfragen müssen, ob Sie so etwas mögen! Da wird mein kleines Päckchen sicher eine Enttäuschung gewesen sein! Ihr 2. Riesen-Paket von beträchtlichem Gewicht kam zu unser aller Überraschung gut hier an, es hat hellste Begeisterung hervorgerufen und wir alle drei danken Ihnen ganz herzlich!" Nicht nur, dass Frau Ziegler fürchtete, ihr Paket wäre zu klein; vielmehr war es die Sorge darum, ob dessen Inhalt auf der anderen Seite - im Westen - auch dieselbe Freude ausgelöst hatte wie das Westpaket in ihrer eigenen Familie im Osten. Diese Unsicherheit wurde durch eine zunächst ausbleibende Reaktion aus Karlsruhe verstärkt. Weil Frau Geiß auf das Päckchen aus dem Osten erst Mitte Januar antwortete, plagte auch sie ein schlechtes Gewissen. Sie nahm Frau Ziegler die Unsicherheit über die ausgesuchten Geschenke, indem sie beschrieb, wie sich die Familie, vor allem ihre Kinder, über den Nussknacker und den Stern, die im Paket enthalten waren, gefreut hätten. Gleichzeitig bringt sie selbst Unsicherheit zum Ausdruck, indem sie fragt, ob die Backzutaten, die sie nach Dresden versandt hatte, dort wirklich ausschließlich Freude auslösten. Dieser Auszug aus einem Briefwechsel, der den Beginn einer fast 20-jährigen Freundschaft darstellt, verdeutlicht gleich auf mehreren Ebenen die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die es bei einer deutsch-deutschen Freundschaft zu bestehen galt. So scheint es bei beiden Frauen zunächst einmal das Gefühl zu sein, nicht recht zu wissen, worüber sich das jeweilige Gegenüber tatsächlich freuen würde. Eine Unsicherheit, welche zunächst einmal nicht überrascht - begleitet sie doch auch heutzutage viele Menschen, selbst wenn Schenkende und Beschenkte schon lange freundschaftlich verbunden sind. Das gegenseitige Schenken war und ist oft mit Schwierigkeiten verbunden. Für das Schenken unter der besonderen Bedingung der deutschen Teilung - mit den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in beiden Teilen - gilt dies in besonderer Art und Weise, denn es "gab [] keine sozialen Regeln, an denen man sich orientieren konnte" - sie mussten sich erst entwickeln. Darüber hinaus existierten verschiedene Vorstellungen von Nützlichkeit und davon, was im Alltag gebraucht werden könnte. Neben dem Inhalt war es immer wieder auch die Frage, ob das Päckchen oder das Paket das Gegenüber unversehrt erreicht hatte. Denn "wer weiß, ob ansonsten nicht ein Teil Beine bekommen hätte?", erkundigte sich beispielsweise Frau Mettner bei ihren Verwandten in der DDR. Der Päckchen und Paketverkehr war während der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands ein wichtiger Bestandteil der deutschdeutschen Kommunikation stand doch die Möglichkeit des Telefonierens nur den allerwenigsten zur Verfügung. Das Päckchen und das Paket verbanden Freunde, Verwandte, Bekannte sowie ehemalige Arbeitskollegen und stellten weit mehr als einen bloßen Warenaustausch dar. Für unzählige Familien und Freunde war dieser Postverkehr die wichtigste Möglichkeit, Kontakt zu halten sowie sich über das Leben und den Alltag dies und jenseits der Grenze auszutauschen. So wie die beschriebenen Familien aus Karlsruhe und Dresden verschickten Millionen von Menschen Geschenksendungen. Der Aufruf "Dein Päckchen nach drüben " mahnte die Bürger im Westen Deutschlands regelmäßig, ihren "armen Brüdern und Schwestern" im Osten Deutschlands Päckchen und Pakete zu schicken. Und das taten sie auch. Viele erinnern sich auch heute noch an die große Freude, die die Westpakete ins Haus brachten. Vor allem die unverwechselbare Duftmischung aus Kaffee, Kakao, Seife, Schokolade sowie Orangen und Puddingpulver, die beim Öffnen den ganzen Raum erfüllte, ist vielen Paketempfängern noch präsent. Doch auch die Menschen in der DDR schickten oft und regelmäßig Päckchen und Pakete - nennen wir sie "Ostpakete" - an ihre Verwandten und Bekannten in die Bundesrepublik und bemühten sich, mit klassischer Literatur, Schallplatten, kunstgewerblichen Gegenständen und Backwerk Freude zu bereiten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch die Empfänger im Westen die Geschenksendungen meistens mit einem bestimmten Geruch verbanden - dem Geruch nach selbstgebackenem Stollen. Auch heute, fast 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung, sind die Geschenksendungen zwischen "hüben" und "drüben" einmal mehr im Fokus der Erinnerungskultur. Dabei werden sie nur allzu oft als verbindende Elemente über die Mauer hinweg konstruiert, welche vor allem auf die Empfänger der Westpakete eine große Wirkung hatten. So äußerte sich beispielsweise die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 in jenem beginnenden Doppeljahr der Gedenkfeiern wie folgt: "Ein Teil der Anziehungskraft, die von der freien Welt ausging, beruhte natürlich auch auf der bunten Warenvielfalt, die es im Westen gab. Ich persönlich erinnere mich noch gut daran, als die Westpakete ankamen. Die Vielfalt war weitaus größer als in der DDR." Betrachtet man die Erinnerungen im öffentlichen Diskurs zum deutsch-deutschen Päckchen- und Paketverkehr genauer, so scheint es zunächst, als ob ausschließlich die Menschen aus der Bundesrepublik - also aus dem vermeintlich "goldenen Westen" - ihre Verwandten und Bekannten in der DDR mit Geschenksendungen bedachten. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb nicht, nur das Westpaket oder nur das Ostpaket zu untersuchen, sondern beide Paketarten miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle der innerdeutsche Paketverkehr zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) auf der anderen Seite einnahm. Besonders die Fragen nach Versand und Erhalt sowie nach der Motivation auf beiden Seiten, aber auch die dadurch entstandenen Bilder des "anderen Deutschlands" werden im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Die mediale Berichterstattung zum Thema kommt oft nicht über einen anekdotischen Charakter hinaus. Vielfach sind es lediglich Erinnerungssplitter Einzelner, welche auf die eine oder andere Facette des Versands eingehen. Meist enden diese Erinnerungen mit der Bemerkung, es wäre gut, dass Deutschland nun wiedervereinigt ist, aber dennoch schade um die Geschenksendungen, die viel Freude ins Haus gebracht hätten. Gerade der anekdotische Charakter und die immer wieder erzählten Erlebnisse im Zusammenhang mit den Geschenksendungen zeigen, dass das Thema nicht nur zu belächeln ist und bei genauerer Betrachtung umfassende Erinnerungen zu Tage treten. Besonders lohnend ist diese Untersuchung, da der Päckchen- und Paketverkehr bereits früh ein Politikum war. Wurde der Paketversand in Westdeutschland teilweise subventioniert und sogar staatlich gelenkt, war der ostdeutsche Staat vor allem auf dessen Kontrolle und Reglementierung bedacht. Die Aufrechterhaltung der individuellen Kommunikation über den Paketverkehr entsprach der westdeutschen Vorstellung und Motivation, dass es nur ein gemeinsames Deutschland geben könne, solle und dürfe. Bei näherer Betrachtung der Li...