Beschreibung
Die klassischen Stadtforschungsdisziplinen haben die Frage, wie man Berliner wird, bislang nur am Rande gestreift. Brenda Strohmaier schließt diese Forschungslücke. Sie befragte sieben Gruppen unterschiedlicher Berliner zu den Besonderheiten der Hauptstadt - darunter wohlhabende Senioren, Plattenbaubewohner und junge Homosexuelle. Dabei zeigte sich, dass die Neuberliner die Besonderheiten der Stadt lernen müssen. Außer der schieren Größe der Stadt erweisen sich vor allem die Umgangsformen der Ortsansässigen als Herausforderung. Denn wer in Berlin ankommen will, muss zu allererst die Vorteile des Konzepts 'Berliner Schnauze' verstehen.
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Autorenportrait
Brenda Strohmaier, Dr. des., ist Redakteurin im Stilressort der Welt am Sonntag.
Leseprobe
1. Einleitung: Fragestellung, Forschungsstand, Vorgehen 1.1. Sei Berlin Berlin birgt viele Rätsel für Neulinge, allein wegen seiner Metamorphose von der Mauerstadt zur Touristenattraktion. "Sind wir jetzt im Osten oder Westen?", hört man zum Beispiel oft von Besuchern, die durch die Stadt flanieren. Selbst Berliner können darüber an manchen Orten ins Grübeln geraten. Tatsächlich hat sich das wiedervereinte Berlin seit dem Fall der Mauer in vielerlei Hinsicht rasant gewandelt. Stadtteile wurden saniert, manche Viertel wie der Potsdamer Platz neu gebaut, die Einwohnerschaft einmal durchgemischt. 3,4 Millionen Berlinerinnen und Berliner registrierten die Statistiker im Jahr 2013. Die offizielle Prognose des Senats sagt für das Jahr 2030 voraus, dass rund 3,8 Millionen Menschen in Berlin leben werden. Damit könnte die Stadt sich wieder der Vier-Millionen-Marke nähern, die sie zuletzt während der 1920er-Jahre erreichte und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hielt. In dieser Arbeit gehe ich mit Hilfe von Gruppendiskussionen der Frage nach, was heute das Besondere dieser Stadt ausmacht, die plötzlich wieder als attraktiv gilt. Ist dieses Nachwende-Berlin ein ganz anderes Berlin als das, was es die Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte davor war? Oder ist sich die Stadt in wesentlichen Punkten treu geblieben? Und wenn ja, wie konnten diese Eigentümlichkeiten den rasanten Wandel und die zahlreichen Neuankömmlinge überstehen? Die Frage nach dem Besonderen der Stadt drängt sich auf. Berlin stellt schließlich wieder eine Möglichkeit dar, zu der sich immer mehr Menschen verhalten müssen, weil sie andere kennen, die schon da waren oder sind und davon berichten. Noch vor 25 Jahren musste die Bundesrepublik Gehälter in der Enklave subventionieren, um West-Berliner zum Bleiben zu bewegen. Heute zieht die Stadt mit wieder vereinten Kräften Menschen aus aller Welt an. Für Kreative avancierte sie zeitweise zum Mekka. So heißt es im Jahr 2010 im Katalog zu einer Ausstellung, die Berliner Nachwende-Kunst zeigte, die Stadt sei "zur international begehrtesten Adresse zeitgenössischer Kulturschaffender" geworden (Becker/Landbrecht/Schäfer 2010: 11). Auch Touristen und Unternehmen haben sich wieder an die Stadt erinnert, die um 1900 herum die prosperierendste Deutschlands war: Insgesamt sind pro Tag im Schnitt rund eine halbe Million Tagungs- und Übernachtungsgäste in Berlin unterwegs. Berlin ist zudem wegen seiner neuen Hauptstadtfunktion in den Medien omnipräsent - und sei es nur als Hintergrundbild in den Fernseh-Nachrichten. Somit wächst nicht nur die Einwohner- und Besucherzahl, sondern ebenso die Anzahl der Menschen, die sich in Gedanken mit dem Ort beschäftigen. Auch deshalb kursieren in allen möglichen Varianten Geschichten vom Wandel der Stadt, ihrer besonderen Attraktivität - aber auch von ihren speziellen Schrecken. Die Chemnitzer Band Kraftklub singt auf ihrem Album "Mit K", das es im Jahr 2012 auf Platz eins der deutschen Albumcharts schaffte: "Ich will nicht nach Berlin, auch wenn da alle meine Freunde sind." Selbst wenn Lokalpatrioten das kaum glauben mögen: Jahr für Jahr verlassen weit über 100.000 Menschen die deutsche Hauptstadt. Während Berlin vielen Menschen als Ort der unzähligen Möglichkeiten erscheint, stellt es für andere eine besondere Zumutung dar, das heißt eine Unmöglichkeit und somit das Gegenteil einer Chance. Offensichtlich - und dafür sprechen auch zahlreiche Berlin-Hassbücher - gibt es Leute, die sich der Aufforderung des offiziellen Berlin-Slogans verweigern, der da fordert: "Sei Berlin - be Berlin". Genau an diesem Punkt setzt die Fragestellung dieser Dissertation an: Was heißt denn "Sei Berlin" 20 Jahre nach der Wende? Kann man angesichts des rasanten Wandels der Stadt überhaupt noch ausmachen, was es typischerweise bedeutet, Berlinerin oder Berliner zu sein? Wer über die Aussage der Kampagne nachdenkt, dem stellen sich sogleich weitere, damit verbundene Fragen. Dazu gehört jene, wie sich das besondere Sein einer Stadt überhaupt erschließen lässt. Damit betritt man einerseits stadtsoziologisches Terrain, insbesondere jenes der Darmstädter Erforscher der Eigenlogik der Städte. Zugleich landet man bei Fragen danach, wie städtisches Sein und Bewusstsein überhaupt miteinander verbunden sind. Bei der Suche nach Antworten bin ich gleich zwei Mal auf die Idee gestoßen, das Besondere einer Stadt über die ihr eigenen Möglichkeiten zu erfassen. Erstmals begegnete ich diesem Gedankengang, als ich nach einem theoretischen Rahmen suchte, um Vorstellungen über die Stadt zu diskutieren. Über die Texte des ethnografischen Stadtforschers Rolf Lindner (2002; 2006; 2008) fand ich zum Begriff des Imaginären. Sowohl Philosophen als auch Stadtsoziologen verwenden ihn, um den Zusammenhang von Realität und Vorstellungen zu beschreiben. Der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer (2006) nutzt ihn speziell, um Vorstellungen zu bezeichnen, die sich auf Handlungsoptionen beziehen - wie bestimmte Möglichkeiten, die Migranten in bestimmte Orte locken. Demnach wäre Berlin durch die eigentümlichen Möglichkeiten charakterisiert, die Bewohner und Besucher der Stadt zuschreiben. Mit diesem Gedankengang wurde ich abermals konfrontiert, als ich mich den Besonderheiten Berlins mit einer qualitativen Studie näherte. Dafür ließ ich sieben Gruppen unterschiedlicher Neu- und Altberliner darüber diskutieren, wie sich Berlin ihrer Meinung nach vom Rest der Welt unterscheidet. Bei den Probanden handelt es sich um wohlhabende Senioren, arbeitslose Plattenbaubewohner, angehende Friseurinnen mit türki-schen Wurzeln, Mitglieder eines Freizeittreffs für Menschen über fünfzig, Taxifahrer, junge Schwule und ausländische Studierende. In den Gesprächen ging es viel um das Ankommen in der Stadt, und schnell wurde klar, dass das Mögliche (und das Unmögliche) ein zentrales Konstrukt ist, um die Besonderheit Berlins zu erfassen. "Berliner Imaginär" werde ich diese speziellen Möglichkeiten nennen. Noch eine zweite Thematik wurde bei der Auswertung der Diskussionen deutlich, die mir zwar von meinem eigenen Ankommen irgendwie vertraut war, mich aber in ihrer Ausformulierung dann doch überraschte: Berlin und sein Imaginär will gelernt sein. Die Berichte von Neuankömmlingen zeugen von einem komplexen Prozess, wie die Stadt erfasst wird, nachdem der erste Ankommensschock verarbeitet ist. So erzählen die Befragten, wie sie die spezielle Geografie der Stadt begreifen mussten und lernten, Entfernungen einzuschätzen sowie U- und S-Bahn zu nutzen. Auch die Bedeutung bestimmter Stadtviertel verstehen Zugezogene nur nach und nach. Als elementare Herausforderung erweisen sich zudem die Umgangsformen der Berliner, der wahre Sinn des Begriffs "Berliner Schnauze" erschließt sich für viele Zugezogene erst nach einiger Zeit. Die Metapher von der Schule des Lebens bekommt in Berlin einen neuen Sinn. Sie werde ich verwenden, um aufzuschlüsseln, wie die Neuankömmlinge ein Unterrichtsspektrum von Erdkunde über Sozialkunde bis hin zu Leibeskunde absolvieren. Wichtigste Lektion: In Berlin ist alles möglich - aber man muss sich dafür anstrengen. Die Analyse der Debatten ums Imaginär wird zeigen, dass trotz all der Veränderungen nach der Wende eine erstaunliche Kontinuität in Berlin zu erkennen ist, die sich durch diese Lernprozesse gut erklären lässt. So ist die Erzählung von der Stadt, in der ebenso raue wie pfiffige Bewohner auch die kleinste Chance zu nutzen wissen, schon über hundert Jahre alt. Womit wir bei einer weiteren Frage wären, die sich im Laufe der Studie stellte, nämlich jener nach dem Ursprung der heutigen Sinnstruktur der Stadt. Welche geografischen, historischen und politischen Bedingungen haben dazu geführt, dass ein bestimmtes Handeln und Denken in Bezug auf Berlin heute als sinnvoll gilt? Für dieses Rätsel möchte ich mit Hilfe des Imaginärs Erklärungsvorschläge liefern. Dabei wird - wie gleich schon beim Forschungsstand - deutlich werden, wie groß der Nachholbedarf ist, was die...
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Interdisziplinäre Stadtforschung