Beschreibung
Gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie Geschlecht gelebt und beschrieben werden soll, werden permanent erzeugt, weitergegeben, in Handlungen übersetzt und schriftlich fixiert. Die Beitragenden analysieren das Spannungsverhältnis, das sich zwischen Geschlechternormen und ihrer gelebten und beschriebenen Existenz durch Individuen auftut.
Autorenportrait
Christa Binswanger ist Literaturwissenschaftlerin und Projektleiterin des Gender- Graduiertenkollegs Bern/Fribourg. Margaret Bridges ist Professorin für mittelalterliche Anglistik und Beirätin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Bern (IZFG). Brigitte Schnegg ist Historikerin und Leiterin des IZFG. Doris Wastl-Walter ist Professorin für Sozial- und Kulturgeographie und Direktorin des IZFG.
Leseprobe
Palimpsest Der Prozess des Überschreibens bereits existierender Vor-Schriften lässt sich mit der Metapher des Palimpsests veranschaulichen. Ein Palimpsest im engeren Sinn ist ein Manuskript, dessen ursprüngliche Beschriftung von einem mit höherem Wert besetzten Text überschrieben wird. Dies geschieht entweder dadurch, dass ein neuer, meist anders gefärbter Text senkrecht über einen bereits existierenden Text geschrieben wird, sodass die Textschichten quer zueinander stehen (und gelesen werden müssen); oder indem durch Radierung, Schaben oder Waschen das (fast) gereinigte Pergament überschrieben wird. In der Regel wird die ursprüngliche Schrift dabei aber nicht zum Verschwinden gebracht; viele antike und mittelalterliche Texte sind nur als eine 'Schrift unter der Schrift' überliefert und lassen sich daher nur lückenhaft wahrnehmen. Bei der Entzifferung und Auslegung eines Palimpsests geht es also darum, gleichzeitig die deutlich lesbare und Geltungsanspruch erhebende oberste Schriftschicht und die unter der obersten Schrift verborgenen, aber durchschimmernden Vor-Schriften lesen zu können. Paradoxerweise erhält das Wort Vorschrift erst im kulturellen Kontext der europäischen Postmoderne wieder seine ursprüngliche etymologische Bedeutung von etwas vorher Geschriebenem. Seitdem finden wir eine Vielfalt von Anwendungen dieses Wortes, sowie seines begrifflich verwandten Prä-Texts. Sie bezeichnen sowohl Paratextsorten (wie Vor- und Nachworte), als auch früher eingetragene Textschichten oder Vorgänger-Diskurse, die als Quellenmaterial oder Intertextualität in Texte einfließen. In diesem neuen Anwendungsbereich finden wir nur selten und meistens nur spurenhaft den Machtanspruch, der an 'Vorschrift' haftet. Im Gegenteil, der spätere, auf den Prä-Text folgende Text, entfaltet seinen eigenen Geltungsanspruch, der im Falle der oberen Textschicht des Palimpsests seinen radikalsten Ausdruck findet, weil diese Schicht die darunter liegenden buchstäblich unterdrückt und diese ihrer Aussagekraft zu berauben sucht. Das Palimpsest erscheint als geeignete Metapher zur Umschreibung des Verhältnisses von Texten und Prätexten, die bei der Lektüre und Dekodierung nur schwer auseinander zu halten sind. Sie nehmen denselben Raum ein und stellen eine Intimität her, die sich aber oft als eine Scheinintimität oder Devianz entpuppt. Schon 1982 bezeichnete Gérard Genette die inextricability von hypertextlichen Gefügen als palimpsestueux. Denn das Verhältnis von script zu Vor-Schrift im Palimpsest ist zwar klar in seiner beabsichtigten zeitlichen und räumlichen Bevorzugung des 'Post-' über das 'Prä-', des sichtbar Näheren über das nur spurenhaft noch Entzifferbare, jedoch besagt die Co-Präsenz der beiden scripts nicht, ob diese in einer Beziehung von Interaktion, von Beliebigkeit oder sogar von Befremdung zueinander stehen. Insofern als die meisten im vorliegenden Band erforschten und dargestellten gesellschaftlichen Geschlechternormen nur gebrochen, strategisch untergraben oder widerspenstig tradiert werden, ist eine durchgehende Analogie zum Palimpsest vorhanden. Diese besteht unabhängig davon, ob Widerspenstigkeiten oder Brüche explizit hervorgehoben werden (wie etwa in den Beiträgen von Gudrun-Axeli Knapp, Susanne Balmer und Mechthild Bereswill), ob eine 'Lektüre gegen den Strich', also quer zur gängigen Interpretationsweise im Sinne der queer studies vorgenommen wird (wie in den Beiträgen von Bettina Büchler und Serena Dankwa), oder ob Friktionen nur spurenhaft präsent sind (wie etwa in den Beiträgen von Katharina Thurnheer oder Andrea Hungerbühler). Scripts des Schweigens und Verbots Ein Palimpsest kann also eine Stimme zum Verstummen bringen, die dennoch Spuren ihrer Präsenz verrät. Mit Blick auf Interview-scripts und literarische Texte lassen sich insofern palimpsestische Züge ausmachen, als auch diese von der dialektischen Verschränkung von Schweigen, Reden, Vorschreiben und Handeln geprägt sind. Ausgesprochene und unausgesprochene Normen 'schreiben' unsere (Sprech-)Handlungen 'mit'. So tritt uns etwa in Nathalie Peyers Beitrag das Sprechverbot sehr deutlich entgegen: Ehefrauen im tamilischen Madurai dürfen nicht über Konflikte in ihrer Ehe sprechen. Verstoßen sie gegen dieses Verbot, indem sie sich gegen ihren Ehemann auflehnen oder indem sie sich bei Freundinnen oder Verwandten beklagen, gelten sie als schlechte Ehefrauen. Die Ehefrauen aus Madurai thematisieren aber trotz der rigiden normativen Ordnung ihre Konflikte, zumindest punktuell, wie etwa in der Interview-Situation. Ihre Deutungen der gesellschaftlichen und kulturellen prescripts lassen ihnen einen Spielraum. Die Dialektik der Einhaltung des öffentlichen Diskurses zur guten Ehefrau, die schweigt, und dem Ausbruch daraus, vollzieht sich außerdem entlang weiterer Differenzkategorien. Es entsteht der paradoxe Effekt, dass die aufsteigende Mittelschicht viel rigider an dieser Norm festhält als etwa niedrigkastige Schichten. Weiter kommt in allen Beiträgen, in denen Sexualität fokussiert wird, die Dialektik von Verschweigen und Erzählen besonders stark zum Tragen. Sexualität, die im Alltagswissen primär mit Praxen verbunden wird, wirft bezüglich potentieller scripts die Frage auf, ob und wie sie überhaupt in Sprache gefasst werden kann. In einigen Beiträgen zeigt sich, dass sowohl das Verschweigen wie auch die Diskursivierung von Sexualität immer sehr stark mit Machtgeometrien verwoben sind. So ist es beispielsweise im heutigen Ghana die Kirche, die Homosexualität überhaupt erst als identitätsbildende Eigenschaft fest-schreibt, also diskursiviert - um sie dann als 'westliches Übel' verurteilen zu können. Serena Dankwa führt aus, wie gerade intime Praxen zwischen Frauen einer Logik des Verschweigens und der situativen Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit folgen, die einem ganz anderen script entsprechen als in der westlichen Welt. Intimität zwischen Frauen wird weder als identitäres noch stabiles Wesensmerkmal gelesen. Sie wird vielmehr als Beziehungsform gesehen, die von Alter, ökonomischer Positionierung und Beziehungsdynamiken geprägt wird, und die auch ein situatives, zeitlich begrenztes Mannsein für den einen Part ermög-licht. Bettina Büchlers Analyse von Diskursen über Frauen liebende Frauen, die in die Schweiz migriert sind, zeigt demgegenüber auf, dass sich diese in einer Art diskursiver Leerstelle befinden. NGOs für Migrantinnen adressieren in der Regel nur heterosexuelle Frauen. Diese diskursive Lücke trifft auf den Umstand, dass die migrierten Frauen ihre sexuelle Orientierung oft nicht nur verschweigen, sondern häufig angstbesetzt verbergen. Und dies steht nun wiederum in Widerspruch zum seit der Einführung des Partnerschaftsgesetzes im Jahre 2007 deutlich homophilen Bild der Schweiz. Sexualität scheint also gerade dann, wenn gesellschaftliche Marginalität wirksam wird, mit Machtgeometrien verbunden zu bleiben, die sich in der paradoxalen Kombination von öffentlichem Diskurs und Verschweigen erschwerend auf den Handlungsspielraum der Akteur/innen auswirken können. Christa Binswanger fokussiert in ihrem Beitrag zu sexuellen scripts in literarischen Texten das Erzählen über sexuelle Erfahrungen oder auch Phantasien. Die Synopse von sozialwissenschaftlicher und erzähltheoretischer Analyse von literarischen Darstellungen sexueller scripts sucht nach einem transdisziplinären script-Begriff. Dieser soll sowohl handlungsleitende wie auch fiktionale und imaginäre Anteile von Sexualität berücksichtigen. Im Bild des Palimpsests, das mehrere übereinander gelagerte Schriftschichten aufeinander bezieht, lässt sich die Frage nach der Artikulierbarkeit von Sexualität als sozialer, interaktiver wie auch psychophysischer menschlicher Pr
Schlagzeile
Politik der Geschlechterverhältnisse Herausgegeben von Cornelia Klinger, Eva Kreisky, Andrea Maihofer und Birgit Sauer