Beschreibung
Der Band lädt ein zu einer Entdeckungsreise auf dem schmalen Grat zwischen Aneignung und Verfremdung. Prominente Kulturwissenschaftler wie Fritz Kramer, Hans Peter Duerr und Mark Münzel führen vor Augen, dass das Fremde nur in den Kategorien des Eigenen beschrieben werden kann a" Ethnologie ist kulturelle Übersetzung.
Autorenportrait
Volker Gottowik, Dr. phil. habil., ist Ethnologe und Privatdozent an der Universität Frankfurt. PD Dr. Holger Jebens und Editha Platte, Dr. phil., sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Frobenius-Institut für Ethnologie in Frankfurt.
Leseprobe
Noch bis vor wenigen Jahrzehnten besaßen alle Personenkraftwagen Tritt-bretter zum Einsteigen. Da sie auf gleicher Höhe mit dem Fußboden des Wageninneren lagen, kam ihnen keinerlei praktische Funktion zu. Beim Ein-parken wie im Verkehr erwiesen sie sich eher als hinderlich, und ästhetisch standen sie der zunehmenden Tendenz zur Stromlinie im Wege. Daher wurden sie dann auch - wie analog der "Winker" - fast von heute auf morgen aufgegeben, ohne dass jemand so recht Notiz davon nahm. Es handelte sich um anachronistische Bauelemente, die sich "überholt" hatten. Gleichwohl waren sie kulturhistorisch von Bedeutung: Sie stellten ein Relikt der vorausgehenden Kutsche dar, die ihrerseits auf Planwagen und Sänften mit fahrbarem Untersatz zurückgingen, bei denen beiden sie noch die konkrete Funktion einer Treppe erfüllten. Allgemein finden sich Menschen (und Gesellschaften) nur widerstrebend zu Veränderungen bereit, weil das gewöhnlich weiterreichende Konsequenzen - im Gebrauch, in den Verhaltenskonventionen, im Denken, im Recht und so weiter - mit sich bringt. Doch lassen sich derartige Vorbehalte leichter überwinden, wenn man zwischen Altem und Neuem Bindeglieder, die an beidem teilhaben und den Übergang gleitend gestalten, also gewissermaßen "Trittbretter" einbaut, die den Kontinuitätsbruch "überbrücken". Neues erwächst immer - wenn auch stimuliert durch exogene Impulse - aus Altem, das heißt konkret nach den Vorgaben und im Rahmen überkommener Konventionen, sei es durch formale Modifizierung, eine Verschiebung in Gebrauch und Funktion, durch Umdeutung oder Anpassung. Anders bliebe es unverständlich und würde zu Störungen mit unter Umständen erheblichem desintegrativem Sprengpotential führen - wie im Fall gewaltsam induzierter Innovationen. Doch besteht je nach Art des betroffenen Kulturgutbereichs ein Unterschied in der Aufnahme- und Akzeptanzbereitschaft. Der Übergang von Schneidwerkzeugen aus Stein oder Muschelschalen zu Messern mit metallener Klinge, vom Steingut zur Keramik, von Grabstock und Kniestielhacke zum Krümelpflug oder von Schleife und Schlitten zum Wagen vollzog sich rasch und ohne auf schwer überwindliche Widerstände zu stoßen, während sich im Brauchtum, den sozialen Institutionen, der Etikette, in Moral, Magie, Ritual, Kult und Glauben vergleichsweise nur wenig bewegt und sich die alten Formen teils über Jahrhunderte hin erhalten. Im ersteren Fall waren Nutzen und Vorteile der Neuerung unmittelbar erfahrbar und einsichtig - ohne dass der Wandel zum Beispiel das gängige Reziprozitätsreglement, das Geschlechterverhältnis, die Verwandtschaftsstruktur oder den Seelen- und Totenglauben berührte; im letzteren dagegen hätte er das Kerngerüst des Begründungs- und Erhaltungssystems der Gesellschaft erschüttert und damit zu Irritationen, Desorientierung, Sittenverfall und Konflikten, unter Umständen zum Untergang der Gruppe führen können. Die Folge war, dass die Entwicklung innerhalb einer jeden Gesellschaft ungleich beschleunigt, scheinbar zeitlich "phasenverschoben", "ataktisch" oder "dyschron" verlief, wie Wilhelm E. Mühlmann (1904-1988) das Phänomen im Anschluss an den amerikanischen Soziologen William F. Ogburn (1886-1959) beschrieb, der im Rahmen seiner Studien zum sozialen Wandel von cultural lag (kulturellem "Zurückbleiben") gesprochen hatte (Ogburn 1922). Es entstand, wie man auch sagen könnte, eine anachronistische Gefällestruktur. Das lässt sich paradigmatisch am Beispiel prämoderner "frühagrarischer" Dorfgesellschaften beobachten, die aufgrund ihrer weitgehenden Autarkie und Autonomie, das heißt ihrer über Generationen hin annähernd gleichbleibenden Erfahrung, ein hohes Maß an Integration, Geschlossenheit, Traditions- und Wertetreue sowie, in der Folge davon, ein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein besaßen und sich insofern hartnäckig innovationsresistent verhielten. Es herrschte die Auffassung, dass allein die seit alters vermeintlich unangetastet überkommene, offenbar optimal bewährte Ordnung das Dasein sicher verbürge. Nichts durfte sich daher verändern. In derartigen "Folk-Gesellschaften", wie Robert Redfield (1897-1958) sie nannte (Redfield 1967:77), "dringen Familienvorstände, Älteste und Oberhäupter der Dörfer mit Nachdruck auf die Wahrung der Traditionen. Sie sind fest überzeugt, dass Achtlosigkeit gegenüber dem von den Ahnen überkommenen Brauchtum (custom) die Stabilität und Wohlfahrt der Gruppen zu Fall bringen würde" (Schram 1954: 80). Daher war, so auch das Urteil Richard Thurnwalds (1869-1954), "keine Gemeinschaft", solange sie jedenfalls nichts dazu nötigte, "an einem Wandel interessiert, der nur mit Schwierigkeiten verbunden ist" (Thurnwald 1966:377). Der gestrenge Traditionalismus sicherte die "Außenwelt-Stabilisierung" (Gehlen 1964:54-59), das heißt garantierte verlässliche Orientierung und die Vorhersehbarkeit des Empfindens, Handelns und Denkens der anderen (Cancik 2001:247). Er entlastete, indem er allen, so Martin Heidegger, "die eigene Führung, das Fragen und Wählen abnahm" (Heidegger 1993:21). Er war, so der französische Paläontologe, Archäologe und Ethnologe André Leroi-Gourhan (1911-1986), "für die menschliche Art biologisch ebenso unerlässlich, wie es die genetische Konditionierung für die Insektengesellschaften ist. [.] Routine steht für das Kapital, das für ein Überleben der Gruppe erforderlich ist" (Leroi-Gourhan 1980:286). Selbst benachbarte Dorfgemeinschaften wahrten tunlichst Distanz zu-einander. Nach der Optik des Nostrozentrismus hätte man sich bei Kontakten "herabgelassen", in jedem Fall eine Kontaminierung riskiert. Was Gott geschieden hatte, sollte der Mensch nicht verbinden - getreu dem allgültigen Distinktionsprinzip, Zugehöriges nicht mit Unzugehörigem, Verträgliches nicht mit Unverträglichem in Berührung zu bringen. Wie Hirtennomaden die Vermengung von Milch mit Agrarprodukten mieden, glaubten Bauern im Westsudan, dass es ihre Ernten ruiniere, wenn Rinderdung von Nomaden auf ihre Felder fiel (Forde und Scott 1946:197-198). Vollends Intimverkehr zwischen Angehörigen alloethnischer Abkunft hatte Schwerst-, Miß- oder Totgeburten zur Folge (Müller 1996a:43-44). Überlebte ein Kind, wurde es nach der Geburt getötet. Fremde Geräte, Speisen und Brauchtümer waren gemeinhin tabuisiert (Horton 1967:176) - und so weiter mehr. Im Grunde entsprach das der gesellschaftlichen Transposition der Immunabwehr des Or-ganismus, der, sobald er die Moleküle körperfremder Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten erkannt und identifiziert hat, mit entsprechenden Gegenwehr- und Abtötungsmaßnahmen reagiert. Traten vor allem einschneidende Veränderungen auf, wurden sie in der Regel als Strafakte der Ahnen und Götter für schwerwiegende Verfehlungen einzelner oder mehrerer Gruppenangehöriger begriffen. Die Abweichung musste durch Sühnung oder Restituierung zunichte, beziehungsweise rückgängig gemacht, in Fällen, in denen sie sich gleichwohl als nützlich erwies, integriert, das heißt zum ursprünglichen Eigengut deklariert werden, das man auf Umwegen lediglich wiedererlangt hatte. Das nahm ihm seine bedrohlichen Eigenschaften und verlieh ihm allmählich die erforderliche Zugehörigkeitsqualität (Liebeck 1928:86). Psychologische Versuche bestätigten, dass Menschen auf neue Reize stark, mit jeder Wiederholung jedoch zunehmend schwächer und schließlich gar nicht mehr reagieren sie haben sich an das Novum gewöhnt, es ist ihnen vertraut geworden (Seyfarth und Chenney 1993:9091). Nach einem Mythos der Assiniboin wurde das Pferd, das die Indianer der Great Plains erst um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert kennenlernten, "tatsächlich" bereits zusammen mit ihrem Stammvater (und ersten Menschen überhaupt) erschaffen, befand sich also von Anbeginn an in ihrem Besitz (Lowie 1917: 164165). Einen analogen Anspruch erhoben auch die Sotho in Südafrika (Wilson 1979:63). Laut Überlieferung der Kágaba in Kolumbien waren es ihre Altvorderen, die als erste die Kunst der Metallverarbeitung beherrschten; sie dankten sie eine...
Inhalt
Einleitung Geschichte Klaus E. Müller Relikte. Überlegungen zum Anachronismus Gereon Sievernich Die Zeit ordnen. Das ptolomäische "Dekret von Canopus" (238 v. Chr.) und das Schaltjahr Iris Därmann Landnahme, Menschennahme. John Locke und der transatlantische Sklavenhandel Mark Münzel Gab es Kannibalismus? Marin Trenk Kulturelle Aneignung und kulturelle Überläufer. Transkulturalisation als Aneignungsstrategie am Beispiel der "weißen Indianer" Shahnaz Nadjmabadi "Drei Tropfen Blut". Zur Bedeutung des Literaten Sadeq Hedayat für die ethnologische Forschung im Iran Richard Kuba Leo Frobenius in New York. Felsbilder im Museum of Modern Art Kultur, Theorie und Methode Susanne Schröter Sex Talks oder der Untergang des Abendlandes Heike Kämpf Kulturelle Sinnkonstruktion als Bastelei Britta Duelke Differenz und Relation. Vom Umgang mit Dissonanzen Heidrun Friese Glückliche Augenblicke und geglücktes Leben Editha Platte Das gestohlene Ding. Und andere Geschichten, die davon handeln, wie sich Europäer ihre Gegenstände aneigneten Mamadou Diawara Die Osmose der Blicke. Zur Forschung in eigener Sache Hans Peter Duerr Rungholt - und kein Ende. Strategien der Ausschaltung von Religion Hans G. Kippenberg Reflexiver Eurozentrismus und Religionsgeschichte Hartmut Zinser Was ist uns heute noch heilig? Zur Theoriegeschichte und aktuellen Situation Bernhard Streck Der Aberglaube als qualitative Wahrnehmung und das Problem seiner wissenschaftlichen Aneignung Anette Rein Viele Wege führen in den Himmel. Ahne werden im interkulturellen Vergleich Brigitte Luchesi Mobile Tempel. Zur religiösen Festkultur Hindu-tamilischer Gemeinschaften in Deutschland Holger Jebens Lokale Moderne und religiöser Pluralismus in Papua-Neuguinea Ethnographie James J. Fox Blutrote Hirse. Eine lokale Ursprungserzählung von der Insel Roti, Ostindonesien Josef Franz Thiel Riten und Symbole des Sterbens in Zentralafrika Ivo Strecker Anmerkungen zu mantischem und magischem Vertrauen in Hamar, Südäthiopien Jean Lydall Die Geschichte von Dukas Halsschmuck Matthias Krings Die Glieder der Gesellschaft. Bruchstücke ritueller Obszönität aus dem Hausaland Volker Gottowik Der normierte Blick. Zur sozialen Wahrnehmung schwarzweißer Paarbeziehungen in Ghana Burkhard und Cornelia Schnepel Die Globalisierung des Strandes. Das Beispiel Mauritius Kunst, Medien, Fotografie Fritz W. Kramer Ominöse Objekte. Fundsachen in der Kunstwelt Stephanie Maiwald Interkultureller Austausch und Selbstkritik der Kunst Susanne Lanwerd Neue Bilder im Orientalismus-Diskurs Heike Behrend Geisterfotografie. Bruchstücke einer interkulturellen Mediengeschichte der Fotografie Thomas Reinhardt Der rechte Fuß des Marabuts. Aura des Heiligen und Authentizität der Simulakra Cora Bender Ground Zero drei Jahre danach: Über die Schwierigkeit, in Amerika zu trauern Bärbel Högner Einer fehlt immer. Porträts aus Santa Maria Tzeja, Guatemala Karl-Heinz Kohl: Fotografien aus den Jahren 1968-2008 Schriftenverzeichnis Karl-Heinz Kohl