Beschreibung
Jedes Jahr wird in Deutschland Vermögen im Wert von über 150 Milliarden Euro vererbt. Wie aber lässt sich die private Vermögensvererbung mit dem Selbstverständnis der Leistungsgesellschaft vereinbaren? Darüber diskutieren seit über 200 Jahren Politiker, Philosophen, Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen. Die Vermögensvererbung ist dabei nicht nur unter normativen Gesichtspunkten umstritten. Die Folgen "unverdienten Vermögens" für die Familie, für die Wirtschaft und für die Demokratie wurden ebenso kontrovers debattiert. Jens Beckert zeichnet die Auseinandersetzungen um das Erbrecht in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten nach, wobei in jedem der drei Länder andere Aspekte im Vordergrund stehen. In den USA sind es die Chancengleichheit und die Gefahr der Vermögenskonzentration für die Demokratie, in Deutschland der Zusammenhalt der Familie und soziale Gerechtigkeit, in Frankreich das Prinzip der Gleichheit und die Struktur von Familienbeziehungen. Diese erste umfassende soziologische Studie zum Erbrecht bietet für die aktuelle Diskussion um die Erbschaftssteuer einen erhellenden Hintergrund zum Verständnis der sehr unterschiedlichen Positionen.
Leseprobe
Wer stirbt, lässt zurück. Wer Eigentum besitzt, hinterlässt dieses. Wem aber gehört dieses Eigentum? Sämtliche Gesellschaften, die individuelle Eigentumsrechte kennen, brauchen Regeln der Zuordnung von Vermögen, wenn der Eigentümer stirbt. In modernen Gesellschaften bestimmt ein kodifiziertes Erbrecht, welche Rechte dem Erblasser zustehen, testamentarisch über sein Eigentum zu verfügen, welche Rechte Familienangehörige des Verstorbenen an seinem Eigentum haben und welche Rechte der Staat hat, sich das Eigentum des Verstorbenen, ganz oder in Teilen, anzueignen. Gesellschaften regeln diese Fragen unterschiedlich. Wie sie geregelt sein sollen, wurde im 19. und im 20. Jahrhundert zu einem bedeutenden gesellschaftspolitischen Thema mit intensiven politischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Alexis de Tocqueville (1987 [1835], Vol.1: 73) hielt das Erbrecht für so wichtig, dass er meinte, der Gesetzgeber könne seine Arbeit ruhen lassen, wenn er nur erst das Erbrecht geregelt habe. John Stuart Mill (1921 [1848], Bd.2: 599) sah das Erbrecht als wichtigsten Rechtsbereich, dessen Bedeutung nur vom Vertragsrecht und der Frage des Status der Arbeiter erreicht würde. In dieser Arbeit untersuche ich die Entwicklung des Erbrechts in Deutschland, Frankreich und den USA seit dem späten 18. Jahrhundert. Anhand der Untersuchung der vier zentralen rechtspolitischen Kontroversen zum Erbrecht in den drei Ländern soll "verstehend erklärt" (Weber) werden, wie sich das Erbrecht entwickelte und weshalb bis heute Differenzen zwischen den Rechtssystemen bestehen. Diese vier Konfliktfelder sind der Umfang der Testierfreiheit, 1 die Rechte der Angehörigen des Erblassers, insbesondere der Ehepartner und Kinder, im gesetzlichen Erbrecht, die Fideikommisse2 sowie die Besteuerung von Erbschaften. Wieso wird dem Erblasser in Frankreich eine nur geringe Freiheit für testamentarische Verfügungen zugestanden, wohingegen die Testierfreiheit in den USA fast unbegrenzt ist? Wieso kann sich in Frankreich das Prinzip der Realteilung durchsetzen? Warum spielen im deutschen Erbrecht die Interessen der Familie eine so viel wichtigere Rolle als in den USA? Warum kommt es in allen drei Ländern zur Einführung bzw. grundlegenden Umgestaltung der Besteuerung von Erbschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Warum werden in den USA sehr viel höhere Erbschaftssteuersätze eingeführt als in Deutschland? Weshalb werden Familienfideikommisse in Deutschland erst 1919 und damit 140 Jahre später als in den USA und 70 Jahre später als in Frankreich verboten? Erbrecht und soziale Solidarität Diese Fragen der Erbrechtsentwicklung stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Zugleich ist ihre Analyse in eine umfassende gesellschaftstheoretische Problemstellung eingebettet, mit der ich an eine rechtssoziologische Überlegung von Émile Durkheim (1991 [1950]; 1992 [1893]) anschließe.3 Durkheim analysierte die Entwicklung von Rechtsinstitutionen als Aspekt der makrosozialen Gesellschaftsevolution, von der aus der Zusammenhang "zwischen individueller Persönlichkeit und der sozialen Solidarität" (Durkheim 1992 [1893]: 82) aufgezeigt werden kann. Durkheim hatte die Entwicklung des Verhältnisses von Individualität und normativen Strukturen der Gesellschaft als vornehmliches Thema der soziologischen Analyse des Modernisierungsprozesses betrachtet. Soziologen wie Ferdinand Tönnies, Talcott Parsons und Robert Park stimmten darin mit Durkheim überein. Auch für die sich später entwickelnde Modernisierungstheorie spielt das Thema eine wichtige Rolle und prägt aktuelle soziologische Auseinandersetzungen zum Charakter moderner Gesellschaften. Bereits in der Arbeitsteilung, insbesondere jedoch in den Vorlesungen Physik der Sitten und des Rechts (1991 [1950]), bezog Durkheim seine Sichtweise des Rechts als Indikator für die normativen Strukturen der Gesellschaft auch auf das Eigentumsrecht. Durkheim (ebd.: 206) zufolge drückt das Eigentumsrecht ein direktes moralisches Band zwischen dem besessenen Ding und der Person des Eigentümers aus. In den Rechten des Eigentümers kommt die moralische Stellung des Individuums zum Vorschein. Die Verletzung des Eigentums wird rechtlich geahndet, weil die Gesellschaft darin eine Verletzung der Person des Eigentümers selbst erkennt. Aufgrund der Verbindung zwischen Eigentumsrechten und Person ist in den Rechten und Pflichten der Verfügung über Eigentum, so Durkheim, der moralische Status des Individuums im Verhältnis zur Familie, zu intermediären Institutionen und zum Staat eingelassen. Erkennbar werden diese im Recht verankerten normativen Strukturen moderner Gesellschaften durch die Untersuchung der historischen Genese des Eigentumsrechts. Durkheim streifte in der nur lückenhaft erhaltenen Vorlesungsnachschrift Physik der Sitten und des Rechts zwar auch das Erbrecht, seine Analysen konzentrierten sich aber auf das Vertragsrecht. Gerade anhand der Entwicklung des Erbrechts kann man jedoch die Strukturen des Verhältnisses von Individualität und deren sozialer Einbettung in die Begrenzungen der Verfügungsfreiheit des Erblassers besonders gut verfolgen. In den Erbrechtskonflikten stehen jene Fragen des Verhältnisses zwischen individueller Freiheit in der Verfügung über Eigentum, der Ansprüche der Familie und des Staates an dieses Eigentum sowie der Rolle von Askription und individueller Leistungserbringung im Mittelpunkt. In diesen Fragen kommen die normativen Strukturen der sozialen Einbindung des Individuums prägnant zum Ausdruck. Wie eng sich das Erbrecht mit dieser gesellschaftstheoretischen Fragestellung verbinden lässt, wird auch daran erkennbar, dass Erbschaft als soziales Problem überhaupt erst unter den Bedingungen der Individualisierung von Eigentumsrechten und des Überschreitens eines rein familiären Eigentumsverständnisses entsteht. Die Entwicklung des modernen Erbrechts ist an die Auflösung des ökonomischen Verbandes der Hausgemeinschaft gebunden, in der es kein Erbrecht im heutigen Sinn gab, weil diese Einheit selbst als unsterblich betrachtet wurde (Weber 1985[1922]: 214). Im Todesfall scheidet ein Mitglied als Träger eines ideellen Anteils am Eigentum aus, ohne dass es zu einem eigentlichen Erbvorgang kommt. Erst die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse durch individualisierte Formen des Erwerbs, die Scheidung von Haushalt und Arbeitsstätte, die Bedeutungszunahme von Kapital im Verhältnis zum Boden als Produktionsfaktor und die Mitgiften einheiratender Frauen, so Weber, führen zu einer zunehmenden Rechenhaftigkeit innerfamiliärer Beziehungen und zur Individualisierung von Eigentumsrechten, die zur Auflösung der Hausgemeinschaft beitragen und das soziale Problem der Zuordnung von Eigentum mortis causa schaffen. Damit ist die Erbrechtsentwicklung aufs Engste mit gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen verbunden. Es handelt sich dabei jedoch, wie ich zeigen will, gerade nicht um einen Prozess der Individualisierung, verstanden als zunehmende Loslösung des Individuums von der Gesellschaft, sondern im Sinne Durkheims um einen Wandel der sozialen Solidarität. Die Frage, wie in den drei untersuchten Gesellschaften individuelle Vermögensverfügungen mortis causa in Vorstellungen sozialer Solidarität eingebettet sind, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Inhalt
Vorwort 1. Einleitung 1.1 Erbrecht und der Wandel sozialer Solidarität 1.2 Gesellschaftliche Dimensionen des Erbrechts 2. Das Recht zu vererben. Testierfreiheit und die Individualität des Eigentums 2.1 Frankreich: Gleichheit versus Freiheit der privaten Eigentumsverfügung 2.2 Deutschland: Testierfreiheit versus Familie und soziale Gerechtigkeit 2.3 Vereinigte Staaten: Chancengleichheit versus individuelle Verfügungsfreiheit 2.4 Schluss 3. Gleichheit und Inklusion: Die Erbrechte in der Familie 3.1 Das Gleichheitsprinzip im gesetzlichen Erbrecht 3.2 Die Ehepartner im Intestaterbrecht 3.3 Die erbrechtliche Integration nichtehelicher Kinder 3.4 Schluss 4. Politische Struktur und Erbrecht: Die Auflösung der Fideikommisse 4.1 Die zweifache Abschaffung der Substitutionen in Frankreich 4.2 Die verschleppte Aufhebung der Eigentumsbindung in Deutschland 4.3 Die Abschaffung der Entails in der amerikanischen Revolution 4.4 Schluss 5. Soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung? Die Besteuerung von Erbschaften 5.1 Chancengleichheit versus Privateigentum: Die Nachlassbesteuerung in den USA 5.1.1 Erbschaftssteuer und Sozialreform in der Progressive Era 5.1.2 Die Abschaffung der Nachlasssteuer? 5.2 Familiensinn versus soziale Gerechtigkeit: Die Erbschaftssteuer in Deutschland 5.3 Zerstörung des Volksvermögens? Die progressive Erbschaftssteuer in Frankreich 5.4 Schluss 6. Konklusion: Diskurse und Institutionen Appendix zur inhaltsanalytischen Auswertung der Parlamentsdebatten Anmerkungen Literatur Personenregister Sachregister
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Theorie und Gesellschaft Neuerscheinung