Beschreibung
Ein Schriftsteller entschließt sich, drei Notizhefte, die ihm zugespielt worden sind, zu veröffentlichen. Es sind die hinterlassenen Aufzeichnungen eines genialen jungen Mannes, eines Comiczeichners, der schonungslos von seinem verpfuschten Leben berichtet: Frauen, Trunksucht, Drogen, Irrsinn - tatsächlich in vielem das Leben des Autors Osamu Dazai. Die packenden Skizzen einer conditio inhumana haben seit Erscheinen des Buches 1948 Generationen japanischer Leser fasziniert. Dazai selbst ist ein Idol.
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Autorenportrait
Osamu Dazai (1909-1948) zählt zu den bedeutendsten japanischen Schriftstellern. Gezeichnet (Originaltitel Ningen shikkaku; wörtlich 'Als Mensch disqualifiziert') ist sein Hauptwerk. Im Juni 1948, noch vor Erscheinen des Buches, setzte Dazai gemeinsam mit einer Geliebten seinem Leben ein Ende.
Leseprobe
Ich habe ein schändliches Leben geführt. Was menschlich leben heißt, weiß ich nicht. Ich bin im Nordosten geboren, auf dem Lande, und eine Eisenbahn habe ich zum erstenmal gesehen, als ich schon ziemlich groß war. Ich stieg die Überführung an der Station hinauf und wieder hinunter, ohne dass mir dabei in den Sinn gekommen wäre, dass es sich um eine Konstruktion handelt, die zum Überqueren der Gleise dient, glaubte, dies sei bloß eine Einrichtung, den Bahnhof komplex und vergnüglich, ihn modisch erscheinen zu lassen wie einen ausländischen Spielplatz. Und das glaubte ich ziemlich lange. Die Überführung hinauf- und hinunterzusteigen hielt ich für ein recht weltmännisches Spiel, die geschmackvollste aller Dienstleistungen, die die Eisenbahn bot, so dass ich, als ich später entdeckte, dass es sich nur um eine sehr praktische Treppe handelt, die den Fahrgästen ermöglicht, die Gleise zu überqueren, auf der Stelle jedes Interesse daran verlor. Als Kind glaubte ich auch, dass Untergrundbahnen, wie ich sie in einem Bilderbuch gesehen hatte, nicht aus einer praktischen Notwendigkeit heraus erfunden worden waren, sondern dass es ein lustiges Vergnügen sei und abwechslungsreich, einmal mit Wagen nicht auf, sondern unter der Erde zu fahren. Ich war von Kindesbeinen an kränklich und musste oft das Bett hüten, wo mir das Laken und der Bezug von Kopfkissen und Decke als höchst langweiliger Zierat erschienen; dass es sich dabei um durchaus nützliche Dinge handelt, ging mir erst auf, als ich fast zwanzig war, und ich war enttäuscht und traurig ob der Nüch- ternheit der Menschen. Auch Hunger habe ich nie gekannt. Damit meine ich nicht, dass ich in einer Familie aufwuchs, die keine materiellen Sorgen hatte, nichts so Einfältiges, nein: Ich hatte einfach keine Ahnung, was für ein Gefühl das ist, »Hunger«. Es mag komisch klingen, aber ich merkte nichts, auch wenn ich nichts im Bauch hatte. Wenn ich aus der Schule kam, aus der Grundschule, aus der Mittelschule, gings zu Hause los: Na, du hast bestimmt Hunger, wir kennen das, wenn man aus der Schule kommt, hat man mächtigen Hunger, wie wärs mit kandierten Bohnen? Oder Sandkuchen? Brot haben wir auch. Mit dem kriecherischen Geist, der mir eigen ist, murmelte ich dann, Mensch, hab ich Hunger, und schob mir eine Handvoll Bohnen in den Mund, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was das sein könnte: Hunger. Natürlich esse auch ich alles mögliche, kann mich aber kaum erinnern, jemals gegessen zu haben, weil ich Hunger gehabt hätte. Ich esse das, was als ausgefallen gilt. Ich esse das, was als luxuriös gilt. Ich esse meistens auch das selbst wenn ich mich überwinden muss was mir an fremden Tischen vorgesetzt wird. Das Schlimmste in meiner Kindheit waren mithin die Mahlzeiten daheim. In unserer über zehnköpfigen Familie auf dem Land wurden die Esstischchen, jeder hatte sein eigenes, in zwei Reihen einander gegenüber aufgestellt, wobei mir als Kleinstem natürlich ein Platz ganz am Ende der Reihe zukam; das Esszimmer war düster, und wenn wir zehn oder zwölf beim Mittagessen beispielsweise dahockten und jeder stumm für sich sein Essen aß, überlief mich jedesmal eine Gänsehaut. Da wir eine bodenständige Landfamilie waren, stets also mehr oder weniger das Gleiche aufgetragen wurde und ausgefallene oder luxuriöse Gerichte nicht zu erwarten waren, bekam ich am Ende regelrecht Angst vor den Mahlzeiten. Warum, dachte ich manchmal sogar, auf meinem Platz am Ende der Reihe in dem düsteren Zimmer, gleichsam vor Kälte zitternd, einen winzigen Bissen zum Munde führend, schluckend, warum müssen denn die Menschen dreimal täglich essen, dreimal, und alle mit so feierlicher Miene, warum muss die Familie sich dreimal, dreimal täglich zu festgesetzten Zeiten in dem düsteren Zimmer ver- sammeln, die Tischchen korrekt ausrichten und, Hun- ger oder nicht, schweigend ihr Essen kauen, gesenkten Blickes, vielleicht ist es eine Art Ritual, um die Geister der Toten zu besänftigen, die im Hause spuken. Wer nicht isst, stirbt! Der Satz klang mir stets als bloß widerwärtige Drohung in den Ohren. Gleichwohl versetzte mich sein Aberglaube (den ich noch heute irgendwie für Aberglauben zu halten nicht umhin kann) immer in Angst und Schrecken. Der Mensch stirbt, wenn er nicht isst, deshalb denn essen muss er arbeitet er: Worte, die dunkler, die enigmatischer und von gleicher Bedrohlichkeit gewesen wären, gab es für mich nicht. Und anscheinend weiß ich, um es kurz zu machen, immer noch nicht, was es heißt, sich als Mensch zu gerieren.